Sergej Prokofieff (1891 - 1953)
Die Lebensgeschichte eines der prominentesten Komponisten des XX. Jahrhunderts ist vergleichsweise schlecht dokumentiert.
Wenige Künstlerbiographien scheinen so undurchdringlich wie jene von Serge Sergejewitsch Prokofieff. 1891 auf einem russischen Landgut geboren, behütet in der Kindheit und frühreif - schon mit zwölf komponiert er eine Oper, aus den Skizzen seiner "Jugendsünden" stellt er später "offizielle" Klaviersonaten zusammen. Als virtuoser, kraftvoller, treffsicherer Pianist macht er ab seinem 18. Lebensjahr Karriere.Wenn er eigenes spielt, dann stöhnt das Publikum oft laut auf. "Das ist ja ein wildes Tier", ruft ein Besucher der Uraufführung des zweiten Klavierkonzerts, die ebenso skandalumwittert ist wie jene von Igor Strawinskys musikalischer Atombombe namens "Le Sacre du printemps". Prokofieff katapultierte sich in die erste Riege der musikalischen Avantgarde. Seine Musik gilt als kompromisslos hart, scharf geschnitten, grell dissonierend, kurz als Inbegriff der Bürgerschreck-Mode der zwanziger Jahre.
1917: Die politische Revolution überrollt die künstlerische. Wie viele Kollegen emigriert auch Prokofieff. Er lebt in Japan, in Bayern, in Paris und in den USA. Mit Werken wie der Oper "Die Liebe zu den drei Orangen" kommt er in die Schlagzeilen. Die neue russische Politik kann und will an diesem Landsmann nicht vorbei. Man stilisiert ihn zum musikalischen Botschafter Russlands und ruft ihn wiederholt zu Aufenthalten in die Heimat zurück.
Bis heute ist nicht dokumentiert, wie sehr die Kulturpolitik des Sowjetregimes den Komponisten unter Druck gesetzt hat. Faktum ist, dass die in der Literatur immer eher knapp referierte Heimkehr sich mühevoll und gewiss nicht ohne gröbere Nachhilfe vollzogen haben dürfte. Prokofieff lebt über Jahre hin in Moskauer Hotels, telefoniert mit seiner im Westen gebliebenen Frau und den Söhnen. Erst 1938 weist man ihm eine für sowjetische Verhältnisse luxuriöse Dienstwohnung zu - und die Familie übersiedelt in die UdSSR.
Verbannung für die Ehefrau
Sie ist, wie sich bald herausstellt, in eine böse Falle gegangen. Denn gleich nach der unwiderruflichen Rückkehr kommt Prokofieff unter die Räder der stalinistischen Unterdrückungsmaschinerie. Ehefrau Lina wird nach der Trennung, die unter nie ganz geklärten Umständen passiert, in die Verbannung geschickt und sieht Prokofieff nicht wieder. Als sie Jahrzehnte später - noch war die Sowjetunion intakt - den Westen besucht, deklariert sie sich als treue Verehrerin der Kunst ihres Mannes, verliert kein Wörtchen darüber, was man ihr angetan hat.
Prokofieff selbst muss sich mehr als einmal vor den immer sadistischer agierenden Kulturgremien der kommunistischen Partei verantworten, Entschuldigungsbriefe entwürdigenden Inhalts formulieren und ist über Jahre hin in Ungnade. Und das, obwohl er mehr als einmal beteuert, den Vorgaben der Partei bezüglich einer "volksnahen" Musik folgen zu wollen.
Tragisch scheint daran die ganz offenkundige bewusste Ignoranz von Vordenkern wie Schdanow oder dem mittelmäßigen Komponisten Tichon Krenikhow, die in Wahrheit nie irgendwelche künstlerische Kriterien zur Beurteilung (oft: Verurteilung) der Musik heranzogen, sondern nur das Ausmaß der zur Schau gestellten Unterwerfung unter die teils aberwitzigen Kultur-Codices der Partei.
Fügsam der Parteidoktrin
Pervers erscheint der Bannfluch über Prokofieff, dessen Wahlspruch "Ich liebe die Melodie und halte sie für das wichtigste Element der Musik" als Motto über den Artikeln der kommunistischen Kunstdoktrin stehen könnte. Wie keinem anderen Komponisten des 20. Jahrhunderts war es Prokofieff gegeben, elegante, ja einschmeichelnde Melodien zu erfinden, die wunderbar ins Geflecht einer avancierten, aber kaum je die Grenzen der Tonalität sprengenden Harmonik passten.
Das gilt für den geistvollen Zynismus von Werken wie der "Liebe zu den drei Orangen" ebenso wie für den Lyrismus der nach der "Heimkehr" vollendeten Ballettmusik zu "Romeo und Julia". Aus Prokofieffs Feder stammen einige der repertoiretauglichsten Stücke der Moderne: manche der Symphonien, allen voran die "Klassische" von 1916 und die Fünfte von 1944, die Violinkonzerte oder das dritte Klavierkonzert, die "Romeo"-Suiten und die Ballettmusik zu "Cinderella".
Die Klaviersonaten zählen zum Fixbestand der Recital-Programme virtuoser Pianisten. Wobei die Sonaten aus 1939/44 (Nr. 6-8) noch einmal die ganze Schaffenskraft Prokofieffs zu bündeln scheinen, die unter den psychologischen Axthieben des Stalinismus mehr und mehr zu erlahmen drohte. Im Spätwerk macht sich ein resignativer Ton breit, der zum kraftvollen, zwischen amüsant-hintergründigem Sarkasmus und emotionaler Emphase virtuos vermittelnden Frühwerken in schärfstem Kontrast steht.
Prokofieff war, das steht außer Zweifel, ein gebrochener, von schweren Herzbeschwerden gezeichneter Mann, als er 1953 starb. Dass Stalin am selben Tag verschied, ihn also auch noch um die verdienten Würdigungen brachte, ist bittere Ironie des Schicksals. Dass die Vordenker einer musikalischen Avantgarde im Westen zur selben Zeit Prokofieffs Musik mit dem Bannfluch der Rückschrittlichkeit belegten, dokumentiert überdies die Malaise der kulturellen Entwicklung im 20. Jahrhundert: Der kommunistische Terror hatte seine kleinen, im Verhältnis wohl unbedeutenden, aber wirkungsvollen Ableger gefunden.
Erst die geistige Öffnung der vergangenen Jahre macht uns die Originalität, das Genie Serge Prokofieffs langsam zugänglich und entdeckt uns einen der liebenswertesten Meister der Moderne.