Serge Prokofieff (1891-1953) war ein Pianisten-Komponist, wie vor ihm Beethoven oder Weber, wie Liszt, Chopin, Brahms oder
Edvard Grieg. Wie zu seiner Zeit Sergej Rachmaninow, Alexander Skrjabin und Béla Bartók. Sie alle waren imstande, ihre eigenen Werke unabhängig von anderen Interpreten populär zu machen. Sie alle verloren über kühnsten musikalischen Visionen niemals den Kontakt zur Aufführungspraxis. Sie alle haben, jeder für sich, einen spezifischen pianistischen Stil entwickelt.
Prokofieffs Vituosität zeigte sich nicht nur anläßlich seiner Auftritte auf den Konzertpodien. Er war auch ein raffinierter Könner des kompositorischen Handwerks. Nirgndwo wird das deutlicher als an seinen Klaviersonaten, bei denen der Pianist Prokofieff mit dem Komponisten gleichen Namens quasi unter vier Augen diskutiert, experimentiert und in neue Gefilde vordringt. »Ganz aus Stahl« sei er gewesen, befand ein Kritiker über den jungen Prokofieff. Das läßt sich an den frühen Klavierwerken durchaus erhärten, gilt jedoch keineswegs für den »ganzen Prokofieff«, dessen Metamorphosen sich auch im Klavierwerk nachvollziehen lassen - an den Sonaten vor allem, die in allen Schaffensphrasen entstanden.
x
Neun Sonaten hat Prokofieff in seiner Reifezeit komponiert. Die ersten vier basieren auf Skizzen, Entwürfen und größeren Versuchen aus Prokofieffs Jugend, die er neu ordnete und ausweitete. Diese vier Werke bilden die erste Gruppe im Sonatenschaffen des Komponisten. Die Fünfte Sonate, entstanden in den ersten Jahren des Exils, blieb ein Einzelstück und - neben der Neunten - ein Stiefkind in der Rezeption. Auch eine späte, simplifizierende Bearbeitung konnte sie nicht fürs Repertoire retten.
Die berühmtesten Klaviersonaten Prokofieffs sind die Nummern 6 bis 8, die sogenannten Kriegssonaten, die unter seinen bekannten Werken den Reifestiel des nach Rußland zurückgekehrten Prokofieff dokumentieren wie sonst nur die Fünfte Symphonie.
Als Nachzüglerin entstand nach Skizzen aus den frühen Vierzigerjahren erst 1947. Fertiggstellt während der schlimmsten Künstler-Verfolgungen in der spätstalinistischen Sowjetunkion, erlebte die Swlatoslaw Richter gewidmete Sonate erst 1951 ihre Uraufführung - der Komponist war krank und konnte die Aufführung nur über ein Telephonleitung mitverfolgen. Auch die Neunte sollte Teil einer Dreiergruppe von Sonaten - diesmal in abgeklärterem Stil - werden. Die Zehnte kam jedoch über das Skizzenstadium nicht hinaus, eine elfte blieb unausgeführtes Projekt.
DIE SONATEN
Sonate Nr. 1 f-Moll (1909)
I. Allegro - meno mosso - piu-mosso - Tempo I
Seine erste Sonate komponierte Sergej Prokofieff quasi im Luftleeren Raum. Eine Orientierung an der russischen Romantik, allen voran an Tschaikowsky kam für ihn nicht in Frage. Kollege Skrjabin hatte seine kühnen Spätwerke noch nicht komponiert. Also mußte sich die Fantasie des jungen Meisterpianisten frei entfalten. So entstand 1909 aus Umarbeitungen von Skizzen, die 1907 für die zweite der jugendlichen Sonaten-Versuche entstanden waren. Kollege Nikolaj
Mjaskowksky hatte zu dieser Sonate Nr. 2, wie das Werk ursprünglich hieß, gemeint:
Sie gefallen sich völlig vergebens darin, Ihre Senaten zu numerieren ...
Es kommt ohnehin der Augenblick, an dem Sie alles streichen und wieder mit Nr. 1 von vorne anfangen.
Tatsächlich begann Prokofieff wieder von vorn und veröffentlichte die radikal veränderte Sonate als Nr. 1 als sein Opus 1.
Es ist bestimmt kein Zufall, daß er ausgerechnet diese Sonate 1915 zum Gedächtnis des früh verstorbenen Alexander Skrjabin spielte. 1910, anläßlich deri ersten öffentlichen Aufführung des Werks reagierten manche Kommentatoren noch skeptisch. Sie fanden den Komponisten recht zögerlich in seiner Aufbruchsstimmung - wohl weil die Harmonik der Sonate noch durchaus den romantischen Klangvorstellungen verpflichtet scheint, obwohl manches im vorwärtstreibenden Gestus der in einem Allegro-Sonatensatz atemlos voranpreschenden Musik schon den kommenden Stürmer und Dränger verrät, der tonale Gesetze bald nicht mehr für gänzlich unumstößlich halten wird.
CD
x
Sonate Nr. 2 op. 43
I. Allegro, ma non troppo
II. Scherzo. Allegro marcato
III. Andante
IV. Vivace - Moderato - Vivace
Die Zweite Sonate ist - anders als das Vorgängerwerk - viersätzig, entstand aber in mehreren Schritten aus einer ursprünglich einsätzigen Sonatine. Das Scherzo ist ein Werk der Studienzeit bei Ljadow. In einigen Momenten der Zweiten meint man das wachsende Selbstbewußtsein des Komponisten förmlich hören zu können, die Gegensätze prallen aufeinander, ein Hang zur Groteske und
Introvertiertheit, scharf rhythmisierte Perpetuum-mobile-Effekte, Überlagerungen von Takteinheiten, aber auch empfindsam-melodische Lyrik in den kontastierenden Passgen der Ecksätze und nicht zuletzt im Andante. Der letzte Abschnitt des langsamen Satzes, der eine variierte Version des Hauptthemas bringt, ist mit den Worten »con tristezza« überschrieben. Vielleicht eine Hommage an einen Jugendfreund Prokofieffs, dem die Sonate gewidmet ist: Er hatte den Komponisten brieflich von seinen Selbstmordabsichten informiert, als es zu spät war und er nicht mehr gerettet werden konnte.
x
Sonate Nr. 3 C-Dur op. 52
komponiert
Allegro tempestoso - Moderato - Allegro tempestoso - piu lento - Tempo I
Die dritte, wiederum einsätzige Sonate erklang erstmals im April 1917, gespielt vom Komponisten selbst. Sie wurde sofort ein voller Erfolg, verrät sie doch wie die beiden Vorgängerwerke den Biß eines jugendlichen Revoluzzers, ohne allzu provokant gegen den Strich gebürstete harmonische Abenteuer. Wie bei den Sonaten 1 und 2 hat der Komponist auf ältere Skizzen und Entwürfe zurückgegriffen. Aus alten Heften steht denn auch auf dem Manuskript zu lesen. Nur die Harmonik hat Prokofieff sanft dem moderneren Gusto angeglichen, ohne sich jedoch allzu weit vorzuwagen.
Freund Mjaskowsky hörte aus Sonate Nr. 3 die »Frische eines jungen, sich behauptenden Willens«. Sie äußert sich in einem formal perfekt austarierten Sonatensatz mit einem wilden Haupt- und einem ruhigeren Seitenthema, die Ballungen im Durchführungsteil, aber auch die stürmische Coda geben dem Interpreten Gelegenheit, technische Brillanz auszuspielen.
x
Sonate Nr. 4 c-Moll
Allegro molto sostenuto
Andante assai
Allegro con brio, ma non leggiero
Nr. 4 ist die letzte der Jugendsonaten Prokofieffs und greift wie die drei Vorgängerwerke auf frühe Entwürfe zurück, die der reifende Komponist nach zehn Jahren überarbeitet und formal zielsicher umgestaltete. Das Werk ist dreisätzig und von elegisch-düsterer Grundstimmung. Das einleitende Allegro stammt aus einer 1907/08 entstandenen Jugend-Sonate, die Prokofieff in seinem Kovolut »Aus alten
Heften« gesammelt hatte. Der Mittesatz ist eine stark überarbeitete Fassung eines Satzes aus dem Entwurf zu einer Symphonie in e-Moll und zeigt in der in einem großen Bogen atmenden Neugestaltung die innere Festigung von Prokofieffs Stil. Das Finale ist von enormer Kraft, beinah verspielt in seinen akrobatischen Dialogen zwischen unterschiedlichen klassischen Bewegungsmodellen - die den Hörer immer wieder zu Fehlschlüssen verleiten: Die Musik hat, wiewohl freundlicher als in den ersten beiden Sätzen, spürbar einen doppelten Boden.
x
Sonate Nr. 5 C-Dur
Allegro tranquillo
Andantino
Un poco allegretto
Die Fünfte ist das Stiefkind unter den Prokofieff-Sonaten, ein Einzelgänger, entstanden 1922 im Exil in Deutschland, wo der Komponist mit seiner Mutter und seiner Frau Lina lebte. Parallel zur Arbeit im Feurigen Engel suchte Prokofieff in diesem dreisätzigen Werk eine Balance zwischen der gewonnenen harmonischen Freiheit und dem Streben nach klassischer Formbeherrschung, für die er einen prononciert anderen Weg suchte als sein ebenfalls exilierter Landsmann Igor Strawinsky, dessen Ästhetik des »Neoklassizismus« Profieff ablehnte. Mit dem Ergebnis seiner Arbeit die er in Paris 1924 erstmals öffentlich vorstellte, war Prokofieff allerdings nicht zufrieden. In einer Neufassung filterte er dreißig Jahre später die harmonischen Kühnheiten aus dem Klaviersatz und versah das Stück mit einer neuen Opuszahl: 135.
x
Sonate Nr. 6 op. 82
Allegro moderato
Allegretto
Tempo di valzer, lentissimo
Vivace
Von Prokofieffs zweiter Frau, Maria-Cecilia Abramovna Mendelson, genannt: Mira, wissen wir, daß der Komponist während der Arbeit an seinen drei Kriegssonaten (Nr. 6 bis 8) gerade Romain Rollands Beethoven-Buch las und die Beschäftigung mit dem großen Klassiker die Arbeit an den Klaviersonaten - und wohl auch an der Fünften Symphonie entscheidend beeinflußt hat. Freilich erscheinen die klassischen Formen in den Klaviersonaten Prokofieffs gefiltert durch die Erfahrungen mit der Ästhetik der Moderne - und Prokofieffs eigenen, unverwechselbaren Stilelementen, die zwischen breit strömender Melodik, motorischer Energie und sarkastisch-hintergründiger Humoristik aufgespannt ist.
Das Scherzo der Sechsten ist eng verwandt mit dem Mittelsatz der Fünften Sonate, aber weniger bizarr in den harmonischen Wendungen. Prokofieffs Stil ist geklärter, dennoch - vor allem in den Ecksätzen - voll von grell attackierenden expressionistischen Passagen, die wohl der bedrängten Stimmung jener Kriegsjahre geschuldet sind.
Nr. 7 ist vermutlich die meistgespielte der Prokofieff-Sonaten. Sie kam in Moskau im Jänner 1943 durch den jungen Swjatoslaw Richter zur Uraufführung. Das Werk entstand mitten im Zweiten Weltkrieg und angesichts des im Innern der Sowjetunion wütenden stalinistischen Terrors, der sich auch gegen herausragende Künstler richtete. So kam Prokofieffs Freund, der Regisseur Wsewolod Myerhold nach brutalen Folterungen durch den Geheimdienst zu Tode. Die Affaire wurde zwar verschwiegen, doch wußte der engere Kreis um den Künstler bescheid. Meyerhold sollte in der Zeit seiner Verhaftung mit der Arbeit an Prokofieffs neuer Oper Semjon Kotko beginnen.
Unter dem Eindruck solcher Gräueltaten und der Bedrohung durch den Krieg begann Prokofieff mit der Arbeit an seinen drei sogenannten Kriegssonaten, deren mittlere die Siebente ist. Richter meinte einmal, in der Siebenten seien die inneren Kämpfe positiver menschlicher Lebenskraft mit der Verwirrung, der Ungewißheit und der aufgestauten Wut jener Zeit gegen die todbringenden Kräfte zu hören. Parallel dazu hatte der Komponist freilich offizielle Aufträge zu erfüllen. So kam es, daß die bekanntnishafte Musik seiner Klaviersonaten gleichzeitig mit dem Festlärm von Huldigungskantaten entstanden, die zum 60. Geburtstag des Diktators Stalin zu schreiben waren: Die drei Sonaten tragen die Opuszahlen 82 bis 84, die Jubelhymne Zdravitsa (ein »Toast« auf Stalin) firmiert unter op. 85.
Pianisten lieben die Siebente Sonate nicht zuletzt wegen ihrer dramaturgisch konzisen, über ein hoch expressives Andante einem jagenden, hochvirtuosen Toccata-Finale zustrebenden Architektur, die ihre Wirkung nicht verfehlt, auch wenn Hörer (und/oder Spieler) von den Hintergründen dieser Musik keine Ahnung haben.
Die Siebente hat neben den großen russischen Pianisten des XX. Jahrhunderts auch einen Analytiker wie Glenn Gould fasziniert, der die Nervenstränge der Musik penibel sezierend bloßgelegt hat.
x
Sonate Nr. 8 op. 84
Andante dolce -Allegro moderato
Andante sognando
Vivace - Allegro ben marcato
Die Achte entstand parallel mit der Fünften Symphonie großteils in der sowjetischen Künstlerkolonie in Iwanowo im Jahr 1944. Prokofieff und seine zweite Frau, Mira, hatten die kritischen Monate des Weltkriegs im Osten des Landes erlebt, wo in Perm an der Einstudierung von Prokofieffs neuem Ballett Aschenbrödel durch das exilierte Ensemble des Petersburger Theaters gearbeitet wurde.
Nach der Rückkehr glich Moskau einem Heerlager, bis zu 15 Personen lebten in die kleinen Wohnungen der Stadt gepfercht. Das Leben in der Künstlerkolonie gab dem Komponisten Gelegenheit durchzuatmen und die beiden großen Werke zu vollenden.
Die Sonate hat Prokofieff seiner Frau gewidmet, was den lyrischen Grundton des ausgedehnten ersten Satzes erklären mag, der so lange ist wie die beiden folgenden Sätze zusammengenommen und nur im heftig bewegten Mittelteil (und kurz vor Schluß) aus seiner versonnen-verträumten Stimmung erwacht. Der knappe Mittelsatz ist ein prägnant rhythmisiertes, aber wiederum lyrisch-gesangliches Intermezzo. Stürmische Bewegung setzt erst im Finale ein, jedoch keineswegs in jener unausweichlich vorwärtstreibenden Manier wie in der Toccata der Siebenten, sondern unterbrochen durch zwei Episoden - eine beängstigend gesteigerte Marsch-Musik und einen poetischen Rückblick auf die ruhigen Abschnittem die in der Sonate vorangegangen waren. Zuletzt aber kehrt die unbändige Bewegungslust des Vivae-Teils zurück und bringt die Sonate zum virtuosen Abschluß.
Das Werk wurde 1944 von Emil Gilels uraufgeführt, der Zeit seines Lebens auch einer der wichtigsten Interpreten des Werks blieb, das bald auch Eingang ins Repertoire von so bedeutenden Pianisten wie Swjatoslaw Richter oder, etwas später, Lazar Berman fand. Von allen Genannten liegen bedeutende Einspielungen des Werks vor, das an Kraft und intellektuellen Tiefgang des Spielers extreme Ansprüche stellt.
»Pique Dame«
Wenig beachtet wurde, daß Prokofieff in dieser Sonate für einige entscheidende Passagen auf seine 1936 komponierte Musik zu der letzendlich nicht realisierten Verfilmung von Puschkins Pique Dame zurückgegriffen hat. So gehört das lyrische Thema mit dem prägnanten Oktavsprung nach unten, das in den ersten Takten des ersten Satzes erscheint im Film-Soundtrack der Figur der Lisa. (In den Szenen im Spielsaal hatte Prokofieff für diese Filmmusik wiederum auf die entsprechenden hektischen Passagen seiner Dostojewski-Oper Der Spieler zurückgegriffen.)
x
Andante dolce
Andante sognando
Vivace
Die Neunte hat es schwer im Konzertrepertoire, obwohl sie Swatoslaw Richter gewidmet ist und in diesem bedeutenden Pianisten einen entschiedenen Anwalt gefunden hat. Der abgeklärte Spätstil Prokofieffs ist den Pianisten freilich so wenig geheuer wie dem Publikum, das sich mit den gehaltvollen, hintergründigen, aber auch wesentlich virtuoseren Kriegssonaten 6 bis 8 weitaus leichter tut.
Prokofieffs zweite Frau Mira notierte in ihr Tagebuch:
Sie ist ruhig und tief. Als ich ihm sagte, mein erster Eindruck wäre gewesen, das Werk sei sowohl russisch als auch Beethoven-artig, meinte er, er selbst hätte diese beiden Eigenschaften darin gefunden.