Vom jungen Wilden zu einem der größten Melodiker der Musikgeschichte
»Sowjetischer Komponist«, so steht es in den Lexika. Schon das ist ein Skandal, denn Prokofieff war zwar freiwillig aus dem Exil nach Rußland zurückgekehrt. Die Jahre nach der Revolution verbrachte er in Frankreich, Deutschland und in den USA. Aber an Stalins Gewaltherrschaft wäre er beinah zugrunde gegangen. Nur mit Mühe und in vielfacher Brechung gelang es dem Komponisten, seine Eigenart zu wahren.
Daß er am selben Tag wie der Diktator starb, kostete ihn im Sowjetreich dann auch noch das Ehrenbegräbnis. Man trauerte nur um den Genossen Stalin . . .
Das war der Schlußpunkt hinter einer menschlich problematischen, teils tragischen Lebensgeschichte, die explosiv begann. Wie der ältere Kollege Strawinsky mit seinem Sacre du printempsentfesselte auch Prokofieff im Jahr 1913 einen Skandal: Als er die Uraufführung seines Zweiten Klavierkonzerts am Flügel musizierte, rief ein entrüsteter Konzertbesucher:
Aber das ist ja ein wildes Tier!
Das Aufregungspotential von Prokofieffs Musik war des öfteren tatsächlich enorm. Da gab es die wilde Skythische Suite, die aufheulenden Klänge im tobenden ersten Satz der Zweiten Symphonie. Andererseits brachte er nur ein Jahr nach der grell dissonierenden Skythischen Suite seine spritzige Symphonie classique heraus, die klingen sollte, "wie Haydn komponiert hätte, wenn er heute lebte". Perfekte Formbeherrschung und erstaunlich reiche melodische Erfindungsgabe sind in diesem kurzen viersätzigen Stücklein faszinierend ausbalanciert und sichern Prokofieff bis heute einen Platz in den Hitparaden.
In seinem Oeuvre-Katalog prallen scheinbar unterschiedlichste stilistische Denkungsarten aufeinander. Prokofieff selbst meint einmal, für seine Musik seien höchst differenzierte Charakteristika anwendbar:
*das Klassische
* das Moderne
*das Motorische
*das Lyrische
Zuweilen gewann eine dieser Eigenschaft die Oberhand. Aber der spezifische Prokofieff-Tonfall klingt in jedem der Werke an.
Für das Publikum war Prokofieff freilich nie zu fassen, nicht einzuordnen. Das wußten die Hörer in der Spätphase des russischen Zarenreiches ebenso wie die neugierigen, jeglicher Avantgarde gegenüber aufgeschlossenen Musikfreunde in Frankreich und in den USA während der Zwischenkriegszeit.
Der Komponist hatte sich aus den Wirren der russischen Revolution in den Westen geflüchtet und schlug seine Zelte zunächst in Paris, dann in den Staaten auf. Und er verblüffte mit jeder neuen Komposition - nie klang etwas vertraut, immer erkundete er neues Terrain.
Zu seinen brillantesten, musikalisch auch "entspanntesten" Kompositionen zählen die für Chicago komponierte Gozzi-Komödie Die Liebe zu den drei Orangen und die bereits nach der Rückkehr nach Rußland entstandene Ballettmusik nach Shakespeares Romeo und Julia, eine der besten abendfüllenden Partituren der Tanzgeschichte.
Doch mit Romeo und Julia begannen, kurz nach der Repatriierung schon die Schwierigkeiten. Auseinandersetzungen mit und Demütigungen durch die kommunistische Kulturpolitik sollten Prokofieff dann bis an sein Lebensende verfolgen.
Das Shakespeare-Ballett von 1934 erlebte seine Uraufführung wegen der politischen Restriktionen in der Sowjetunion im mährischen Brünn und enpuppte sich erst später auch in Moskau und Leningrad - wie bis heute in der westlichen Welt - als sensationeller Erfolg.
In Stalins Falle
Privat verschlechterte sich Prokofieffs Situation bald nach der Rückkehr in die Heimat, weil die Machthaber seine aus Spanien stammende Ehefrau wie eine feindliche Ausländerin behandelten. Zudem verliebte sich der Komponist in die 24 Jahre jüngere Studentin Mira Mendelssohn, eine glühende Parteigängerin Stalins.
Nach der Scheidung wurde Prokofieffs erste Ehefrau, Lina, als Spionin angeklagt und nach quälenden Verhören zu 20 Jahren Haft in Sibirien verurteilt.
Lina hat Prokofieff lange überlebt, aber auch später kein böses Wort über ihn verloren. Er selbst hatte sich immer kleinlauter den ästhetischen Diktate des sogenannten Sozialistischen Realismus zu fügen. Die Welt kennt die Darstellungen der Situation durch Dmitri Schostakowitsch. Für Prokofieff waren die Zeiten ebenso schlimm, doch versuchte er sich mit seiner dandyhaften Attitüde stets über die prekärsten Momente zu retten.
Musik mit doppeltem Boden
Wie in Schostakowitschs Werk läßt sich auch in den "angepaßten" Kompositionen Prokofieffs stets eine Metaebene erahnen, die absolut musikalische oder auch geheim programmatische Folien über den offiziell verlautbarten Werk-Gehalt legt. Selbst eine so scheinbar pathetisch Kampf und Sieg der Roten Armee verherrlichenden "Siegessymphonie" wie die Fünfte läßt verzweifelte Ausbrüche hören, die durchaus auch als Aufbegehren gegen die Unterdrückung im eigenen Haus dechiffriert werden können.
In der → Fünften Symphonie läßt feinfühlige Musikfreunde vor allem der Schluß aufhorchen: Das scheinbar fröhliche Treiben des Finalsatzes mündet in ein infernalisches Ticken eines Uhrwerks, das nicht aufhören kann zu schlagen und wie verrückt über die Zielgerade hinauszuschießen scheint. Ein Protestsignal, das eigentlich kaum zu überhören ist . . .
Der Hang zu ausgreifender Melodik, die bereits etwa die Balkonszene in Romeo und Julia zu einem für die Musik des XX. Jahrhunderts ziemlich einzigartigen lyrischen Ereignis gemacht hat, kommt in den letzten Jahren von Prokofieffs Wirken der Partei-Doktrin von der "Volksnähe" entgegen. Dennoch bleibt der "moderne" Prokofieff seiner Zeit nichts schuldig. Vor allem die drei "Kriegssonaten" Nr. 6 bis 8 verarbeiten die tragischen Zeitläufte auf faszinierende Weise. Drei völlig unterschiedliche Werke von eminentem inneren und - im Falle der Achten - äußeren Format.
Die Creme de la Creme der jungen russischen Pianisten zollte Prokofieff ihren Tribut: → Swjatoslaw Richter und Emil Gilels spielten die Uraufführungen. Richter wurde sogar zum Widmungsträger der verhaltenen, introvertierten Neunten (und letzten) Klaviersonate.
Der junge Mstislav Rostropowitsch spielte die Uraufführung der Konzertanten Symphonie für Cello und Orchester.
Prokofieff starb am 5. März 1953, wie schon gesagt, am selben Tag wie Stalin. Nicht einmal Blumen fanden sich am Tag der Beerdigung auf seinem Grab auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof.