Der Doyen der russischen Dirigenten wird 90
Im Wiener Musikleben hat Wladimir Fedosejew seit den frühen Neunzigerjahren eine Sonderstellung. Dass er zehn Jahre lang an der Spitze der Wiener Symphoniker stand und dem Orchester einen künstlerischen Höhenflug bescherte, kam nicht von ungefähr: Das Publikum hatte ihn seit seinen frühen Gastspielen mit dem Symphonieorchester des Moskauer Rundfunks als einen der leidenschaftlichsten und eigenwilligsten Interpreten vor allem romantischer Musik ins Herz geschlossen.
Der Ruhm des Orchestererziehers war vor allem in Fachkreisen bereits enorm. Das Publikum des Jeunesse-Konzerts ahnte davon noch nichts, staunte aber nicht schlecht, als in der Direktionsloge Carlos Kleiber erschien, der seine Menschenscheu überwand, um Fedosejew und sein Orchester live zu erleben. Gegen Ende der eingangs gebotenen Suite aus Prokofieffs Ballettmusik „Romeo und Julia“ waren die Würfel gefallen: Die Steigerungswellen des Trauermarsch in „Tybalts Tod“ übte geradezu hypnotische Wirkung auf das gesamte Auditorium aus.
Jeunesse-Intendant Thomas Angyan wechselte wenig später in die Funktion des Musikvereins-Chefs – und hatte mit Fedosejew eine neue Trumpfkarte in der Hand. Ab diesem Zeitpunkt gastierte der russische Maestro regelmäßig mit seinem ehrenhalber bald Tschaikowsky-Orchester getauften Ensemble aus Moskau, übernahm aber auch Konzerte des RSO und der Symphoniker, die ihn dann zum Chefdirigenten kürten. Die suggestive Interpretationskunst hatte sie zu außergewöhnlichen Leistungen angespornt. Die Verehrer stürmten die Konzerte, denn so expressive Aufführungen hört man auch in Wien nicht alle Tage – und so wohl austarierte Klassiker-Interpretationen desgleichen.
Fedosejew kommt aus der Schule des großen Jewgeni Mrawinsky, der den jungen Künstler, der gerade ein Ensemble aus russischen Volksinstrumenten leitete, einst ans Pult seiner Leningrader Philharmoniker bat. Mit dem erfolgreichen Debüt am Pult des berühmtesten sowjetischen Orchesters war Fedosejews Karriere gemacht. Viele Musikfreunde betrachteten ihn als legitimen Nachfolger Mrawinskys, dessen legendäre Mixtur aus perfekten Einstudierungen und emotionaler Durchdringung der Musik er geerbt zu haben schien
Mit dem Klang des St. Petersburger Meisterorchesters war der junge Wladimir Iwanowitsch ja aufgewachsen. In Leningrad, wie seine Heimatstadt damals hieß, hatte er nicht nur die Schule besucht und erste Musikstudien absolviert. Er musste auch die Belagerung durch die deutschen Truppen und alle grausamen Begleitumstände miterleben und weiß vom unsäglichen Leid der hungernden Bevölkerung zu erzählen. Das musikalische Erbe Deutschlands und – vor allem – Österreichs war für ihn dennoch eine lebenslange Herausforderung. Er hat oft betont, dass er mit seinem Moskauer Orchester, das er trotz aller politischen und finanziellen Kalamitäten bis heute erhalten konnte, über die Jahre hin viel öfter die Beethoven- als die Tschaikowsky-Symphonien aufgeführt hat.
Freilich: Von seinen vielen Aufnahmen sind und bleiben es die Wiedergaben russischer Musik, die Kultstatus behalten werden. Ob Tschaikowsky oder Rachmaninow, Borodin oder Schostakowitsch – seine Interpretationen reißen mit, überzeugen aber auch kritische Geister dank ihrer analytischen Klarheit. Auch mancher Livemitschnitt von den Bregenzer Festspielen, wo Fedosejew mit den Symphonikern denkwürdige Opern-Einstudierungen erarbeitet hat, genießen Referenzcharakter, ob Rimskij-Korsakows „Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch“ oder Rubinsteins „Dämon“. Sie dürfen in einer gut sortierten Diskothek so wenig fehlen wie die Tschaikowsky- und Schostakowitsch-Symphonien.