Die Liederzyklen

Schuberts Seelen-Dramatik

Ich werde euch eine Gruppe schauerlicher Lieder vorsingen, verkündete Franz Schubert, als er seine Freunde im Februar 1827 zu einer privaten Aufführung seiner Winterreise bat. 12 Lieder waren es damals nur, von einem Zyklus, wie wir ihn kennen, war noch keine Rede.
Aber von »schauerlichen Liedern«.

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Auf den Spuren der Winterreise

Februar 1827. Die Winterreise umfaßte die Lieder eins bis zwölf, wie sie als Gedichtreihe in der Urania für 1823 zu finden waren. Selbst Dichter Wilhelm Müller hielt die Serie zunächst einmal für abgeschlossen. Er hat sich's später anders überlegt.
Als Schubert seine »schauerlichen Lieder« vorträgt, ist Müllers Fortsetzung des lyrischen Dramas längst erschienen. Aber der Komponist entdeckt die neuen Gedichte erst, als er die erste Zwölfergruppe schon seinem Verleger verkauft hat.
So komponiert er den zweiten Band nach der Uraufführung des ersten; für uns heute unvorstellbar: Die Winterreise ist gar nicht als einzeitliches Werk erschienen...
Flickwerk also?
Doch ein Ganzes. Denn Müller und Schubert sind weiter marschiert in die einmal eingeschlagene Richtung. Daß aus der dieserart komplettierten Winterreise später einmal mutimediale Shows werden könnten, hätten sich beide so wenig träumen lassen wie eine Aufführung aller 24 Lieder durch Opernsänger in großen Sälen.
Musikverein?
Festspielhaus?
Wir haben uns daran gewöhnt. Und doch handelt es sich bei den uns geläufigen Aufführungs-Modalitäten um Pervertierungen - zumindest gemessen an den Bedingungen der Uraufführung, die dem Komponisten selbst wohl stimmig vorkamen:

Einige Freunde scharen sich ums Klavier, er selbst trägt mir rauer Stimme die »schauerlichen Lieder« vor. Malen wir uns die Szene weiter aus: Man diskutiert hernach heftig. Die Gesänge scheinen den Zeitzeugen, wenn schon nicht "schauerlich", so zumindest ungewöhnlich herb. Freund Schober gibt zu, ihm habe nur eines der Lieder gefallen.
Welches?
Natürlich der Lindenbaum. Ahnt er das Potenzial, das sich hier für Arrangeure wie Friedrich Silcher verbirgt?

Politik im Biedermeier. Doch in den Salons des Biedermeier wurde auch Brisanteres diskutiert. Thema der Unterhandlungen war wohl auch der Dichter der "Winterreise", Wilhelm Müller, als »Griechen-Müller« zu Berühmtheit gelangt. (Sohn Max, Jahrgang 1823, wird noch berühmter. Als Sanskritforscher schreibt er Bücher, die noch heute als richtungsweisend gelten, und prägt das Wort "Arier" für eine indogermanische Sprachengruppe . . .)

Wilhelm Müller hingegen agitiert mit seinen poetischen Mitteln für den griechischen Freiheitskampf. Wie hatte doch der Münchner Philosophieprofessor Friedrich Thiersch so richtig gemeint? Gegen die »Türkenwuth« und »Noth der Christenheit« gebe es eine »allgemeine Verpflichtung, auf jede Art zu helfen«.

Müller hilft:

Sie haben viel geschrieben, gesungen und gesagt / Gepriesen und bewundert, beneidet und beklagt. / Die Namen unsrer Väter, sie sind von schönem Klang, / Sie passen allen Völkern in ihren Lobgesang. / Und wer erglühen wollte für Freiheit, Ehr' und Ruhm, / Der hole sich das Feuer aus unserm Altertum.

Freiheit, die Schubert meint. In der biedermeierlichen Scheinidylle gilt der Kampf um die »Wiege der europäischen Kultur« auch als Metapher für den Kampf um die eigene Freiheit. Das ist jedoch seit der Restauration nach den napoleonischen Kriegen - Müller hat auf preußischer Seite gegen die Franzosen gekämpft, in Lützen, Bautzen, Hanau und Kulm - eine Angelegenheit fürs stille Kämmerlein.

Die Zensur wacht. Über Freiheit spricht man nur hinter vorgehaltener Hand. Ein Biedermeier-Problem? Metternich? Vielleicht dürfen wir an dieser Stelle fragen, worüber beispielsweise im Wohnzimmer der Rechtsanwaltsfamilie Kentridge im südafrikanischen Johannesburg in Zeiten der Apartheid gesprochen wurde? William, der berühmte Sproß der Familie, stattete Anfang des XXI. Jahrhunderts einmal eine Aufführungsserie der Winterreise durch Matthias Goerne und Maerkus Hinterhäuser mit 24 Bildern teilweise durchaus zeitkritischen Inhalts aus . . .

Und zur Schubertzeit?
In den Wiener Biedermeier-Runden wurden zwischendurch schon auch einmal »schauerliche Lieder« vorgetragen. Politisch war in gewissem Sinne auch das: In dieser Musik ließ (und lässt) sich ja ein Freiheitskampf der andern Art entdecken.

Die schöne Müllerin

Einer, der wie Schuberts eigentümliches Intim-Operntheater als Ganzes nach innen gerichtet ist. 1822 hat Schubert seine ersten Wilhelm-Müller-Vertonungen abgeschlossen, »Die schöne Müllerin«. Sie enthielt schon manch »Schauerliches«. Etwa den Selbstmord des unglücklich Verliebten, mit dem die Geschichte schließt.

Baches Wiegenlied - kann Suizid eine tröstliche Komponente haben? Die Musik scheint das zu suggerieren: »Woget und wieget den Knaben mir ein« - Verehrer C. G. Jungs sprechen angesichts solcher Sprachbilder gern von der menschlichen Sehnsucht, in den Mutterschoß zurückzukehren.

Eine Rückkehr. Schuberts Klangtheater als Reise zu den Wurzeln. Ein Sich-Verlieren. Eines von Müllers Gedichten, die Schubert nicht vertont hat, erzählt:
Weißt du, in welchem Garten
Das Blümlein Vergissmein steht?
Das Blümlein muß ich suchen,
Wie auch die Straße geht.

»Wie auch die Straße geht«, sie führt dann auch den »Winterreisenden«. Zur selben Zeit dichtet Schubert selbst ein »Gebet«, darin spricht er von »meines Lebens Martergang«.

Syphilis. Seit 1822 weiß er um sein Leiden. Erst in einem Brief an Leopold Kupelwieser im Jänner 1824 beichtet er. Doch für die Freunde, die dann zum Teil keine mehr sein wollen, ist die Krankheit längst offenkundig.
Sie ziehen sich zurück.
Diese Erfahrung, mehr noch als die Krankheit selbst, bedeutet wohl den »Martergang«: »Habe ja doch nichts begangen, dass ich Menschen sollte scheun«, heißt es im »Wegweiser«, der 20. Station des »Winterreisen«-Kreuzwegs.

Musik als Therapie. Schubert-Biographen versichern einhellig: Mit Musik richtet sich Schubert wieder auf. Lieder über Schmerz, Leid, die Erkenntnis der »ewigen Wanderschaft«, sie tun ihre kathartische Wirkung. Deshalb muss der Weg ja begangen werden. »Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück« - das ist auch das Programm für den Weg des Künstlers in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm.

Nicht von ungefähr tönt der Satz wie ein sanfter Auftakt zu Arnold Schönbergs legendärem Wort: »Einer hat's tun müssen, keiner hat's tun wollen, so hab' ich mich dafür hergegeben.« Für den Weg in die Moderne. Denn »Kunst kommt von Müssen«.

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↑DA CAPO