Schuberts Klaviersonaten
Frühe Versuche (1815/16)
→D 157 E-Dur (ohne Finale)
An seiner ersten Klaviersonate hat der 17-jährige Schubert mit Eifer gearbeitet. Mehrmals hat er das Manuskript umgearbeitet und an Details gefeilt. Unwahrscheinlich ist, daß er vorhatte, das Werk mit einem Menuett abzuschließen, auch wenn dem Schluß dieses dritten Satzes eine gewisse kraftvolle Finalwirkung nicht abzusprechen ist. Zu den höchsten Zielen Schuberts gehörte bei der Beschäftigung mit zentralen Formen wie Sonate, Quartett und Symphonie das Erreichen formaler Balance. Eine E-Dur-Sonate hätte er jedenfalls nicht in H-Dur enden lassen.D 279 C-Dur (ohne Finale)
Aber auch der Torso dieses Werks ist beeindruckend. Der Kopfsatz scheint die private Beschäftigung mit dem Quartettspiel zu reflektieren. Im familiären Streichquartett spielte Schubert die Bratsche und seine Klaviersonate scheint den Wechsel der führenden Stimmen der einzelnen Instrumente zu spiegeln: Die Melodielinie wandert vom Diskant zuweilen in die Mittelstimmen und in den Baß.
Der Mittelsatz in e-Moll ist eines der frühesten Beispiele für Schuberts empfindsame langsame Sätze, die von kräftigen Kontrastwirkungen geprägt sind: Ein schönes Seitenthema in G-Dur führt zu einem heftig bewegten C-Dur-Mittelteil. Schuberts Sinn für gesangliche Linien, der durch den Unterricht bei Antonio Salieri wohl noch geschärft wurde, triumphiert hier bereits.
Das (abschließende?) Menuett ist - wie etliche verwandte Stücke beim frühen Schubert, etwa in der zur selben Zeit entstandenen Zweiten Symphonie - ausdrücklich als energiegeladener schneller Satz zu verstehen und trägt die Satzbezeichnung Allegro vivace.
D 459 E-Dur (5 Sätze)
Individualisierung (1817)
→ D 537 a-Moll
Die erste der ehrgeizigen Sonaten des Jahres 1817 entstand im März und zeigt den Experimentator Schubert, der schon im ersten Satz versucht, dem klassischen Sonatenschema neue Nuancen abzutrotzen: So führt er das Figurenspiel der ersten Takte durch Umwandlung der Koloraturen, die das trotzige Eingangsstatement umspielen (in der weit entfernten Tonart F-Dur) zu einem eigenen Thema. Die punktierte Rhythmik entpuppt sich in der Durchführung als treibende Kraft.
Das Lied-Thema des E-Dur-Allegrettos hat Schubert nicht mehr losgelassen, es wird zur Keimzelle eines seiner großen Sonatensätze werden, des Finals-Satzes des großen A-Dur-Sonate aus seinem letzten Lebensjahr. In der Sonate von 1817 schließen sich dem Thema fantastische tonale Wanderungen bis nach C-Dur und eine scheinbare »Reprise« in F-Dur an.
Experimentell ist auch das Finale der a-Moll-Sonate, das sich aus einer aufsteigenden a-Moll-Skala und die behutsam absteigende Antwort darauf zu einem erregenden Dialog entwickelt, der in quirliger Bewegungen zu immer neuen - oft überraschend kontrastierenden musikalischen Gedanken findet und aus dem hie und da verwirrenden Hell-Dunkel des harmonischen Wechselspiel in schließlich versöhnliche Durregionen findet - das Stück könnte still verklingen, doch setzt Schubert noch einen kräftigen Schluß-Akkord.Bezeichnend ist, daß diese Sonate in Schuberts Autograph die Nummer 5 trägt, der Komponist also offenbar vorangegangen Versuche im Sonaten-Genre mitzählte, wohl um über seine Entwicklung Rechenschaft abzulegen.
→ D 557 As-Dur
→ D 566 e-Moll (zwei Sätze)Zwei Versuche auf dem dornigen Weg. Wie genau die e-Moll-Sonate aussehen hätte sollen, wird sich nie ganz klären lassen. Eine Handschrift, die nach mehrmaligem Besitzerwechsel veschollen ist, soll drei Sätze enthalten haben. Gedruckt wurde in der Gesamtausgabe zunächst nur ein einzelner Sonatensatz, dem sich ein E-Dur-Adagio, das gesondert veröffentlicht wurde, hinzugesellen läßt. Das Scherzo erschien erstmals als Sonderdruck in der Zeitschrift Die Musik im Schubert-Gedenkjahr 1928. Daß ein Finale zumindet geplant war, darf als sicher gelten. Die rechte Balance zwischen individuellem Ausdrucksstreben und klassischer Formgabung fand Schubert erst im folgenden Werk - der a-Moll-Sonate, die nahezu gleichzeitig mit den Entwürfen für das e-Moll-Werk entstand.
→ D 568 Es-Dur
Das Werk lag dem Komponisten am Herzen. Er holte seine Sonate in Des-Dur, deren Original-Manuskript in der Wiener Stadtbibliothek aufbewahrt wird, noch einmal hervor, um sie - transponiert - als Sonate in Es-Dur neu herauszubringen. Die musikalische Substanz hielt Schubert für bedeutend genug, um die Sonate in eine Vierergruppe einzureihen, die als Große Sonaten in Druck gehen sollten. Nur die Sonaten in a-Moll (D 845) und D-Dur (D 850) erschienen dann zu seinen Lebzeiten tatsächlich als Grandes Sonates. Die G-Dur-Sonate und diese Sonate in Es-Dur sollten mit den beiden anderen Werken eine Einheit bilden. Auch die Sonate in C-Dur, die Fragment blieb und posthum als »Reliquie« erschien, gehört in diesen Komplex.
Daß Schubert auf das Des-Dur-Werk in der Zeit der Suche nach formalen Lösungen für großangelegte Kompositionen noch einmal zurückkam, ist vor allem im Hinblick auf den formal zerklüfteten ersten Satz bemerkenswert: Dessen Exposition präsentiert eine ungewöhnliche Fülle von Gedanken und schreitet einen erstaunlich weiten tonalen Kreis aus. Schubert fügte in der Es-Dur-Version eine völlige neue Durchführung hinzu und arbeitete auch den Schluß des ersten Satzes um. Außerdem machte er aus der dreisätzigen Sonate durch Hinzufügung eines Menuetts eine viersätzige. Im Finale gestaltete er den Mittelteil neu. Gegenüber den expressiven Versuchen in der vorangegangenen a-Moll-Sonate sucht er hier deutlich dem klassischen (symphonischen) Sonatenprinzip zu entsprechen.
→D 575 H-Dur
Die H-Dur-Sonate ist die letzte der vollendeten Sonaten-Versuche, mit denen Schubert 1817 das Problem der klassischen Formgebung für sich zu beantworten sucht. Er vereint hier bereits in völlig autonomer Weise Form und Aussage. Im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde finden sich Entwürfe zu diesem Werk, dessen endgültiges Manuskript leider verloren ist. Schubert experimentierte ursprünglich auch mit der Reihenfolge der Sätze und stellte in ersten Versuchen das Scherzo vor den langsamen Satz. Von diesem Vorhaben rückte er zuletzt offenkundig wieder ab. Noch hat das Andante - wie auch das Scherzo - gegenüber dem gewichtigeren Eingangassatz eher Intermezzo-Charakter. Von den strömenden Entwicklungen der späten Sonaten sind wir noch weit entfernt. Wenn auch die H-Dur-Sonate im Melodischen und Harmonischen schon deutlich eigenständigere Züge aufweist, noch scheinen die Formmuster die Fantasie ein wenig einzuengen.
→ D 625 f-Moll (fragmentarisch)
Die Entwürfe zu dieser Sonate zeigen Schubert ganz unmißverständlich auf Beethovens Spuren. Die »Appassionata« ist offenkundig das große Vorbild. Daß Schubert die Niederschrift nach der Durchführung des ersten Satzes abgebrochen hat, ist bedauerlich - ermöglicht aber einen Rekonstruktionsversuch nach klassischem Muster. Pianisten wie Wilhelm Kempff haben den Vorschlag aufgegriffen, die Reprise in der üblichen Weise - mit dem Seitensatz und der Coda in der Grundtonart - zu ergänzen. Damit wird das Fragment spielbar. Wir erfahren zwar nicht, wie Schubert das Reprisen-Problem selbst gelöst hätte, das ihn zur Aufgabe zwang. Aber wir gewinnen einen der schönsten Scherzo-Sätze mit einem hinreißenden lyrischen Trio - und ein Finale, das weit in die Klavierromantik vorausweist.
Anmutiges Intermezzo (1819)
→ D 664 A-Dur
Die erste, lichte der beiden A-Dur-Sonaten gehört ins Umfeld des Forellenquintetts und entstand wohl ebenfalls im Umfeld der glücklichen Episode des Aufenthalts in Steyr, der Heimatstadt von Schuberts Sänger-Freund Vogl. Ob es sich um die für die Pianistin Josefine von Koller geschriebene Sonate handelt, konnte bis heute nicht verifiziert werden. Jedenfalls ist der liedhafte idyllische Tonfall des Kopfsatzes selbst für den Lied-Meister Schubert ungewöhnlich.
Das D-Dur-Andante scheint doppelbödiger in seinem Gehalt, findet von anfänglich-melancholisch verhaltener, wiederum sehr gesanglicher Innigkeit zu einer dramatischen Aufwallung, der freilich eine Wiederkehr des Themas, überlagert von bezaubernden Echoeffekten folgt. Das Finale fegt jede Nachdenklichkeit aufgeräumt hinweg, in einem spielerisch-tänzerischen Tonfall, der jede kraftvolle Geste sogleich charmant augenzwinkernd auflöst.
Trotziges Intermezzo (1819)
→ D 784 a-Moll
Die Sonate in a-Moll (D 784) entstand 1823, in einem Jahr, das Schubert kräftig zusetzte: Die venerische Erkrankung, die er sich vermutlich bei seinem Aufenthalt im ungarischen Zseliz zugezogen hatte, zwang ihn für einige Zeit zu einem Spitalsaufenthalt - sie hätte tödlich enden können, eine Erfahrung, die Spuren in der Musik jener Zeit hinterlassen hat - nicht zuletzt entstanden die todessüchtigen Lieder der Schönen Müllerin während der Rekonvaleszenz. Die Sonate war bereits im Februar 1823 vollendet und zeigt Schubert von einer ungewohnt spröden, herben Art. Das Werk ist dreisätzig, wobei sich Entwicklungen der kargen, harmonisch nur notdürftig gestützten Eingangsphrase zu bedrohlichen, streng rhythmisierten Kaskaden türmen. Der versöhnliche E-Dur-Gedanke spielt im Durchführungsteil des Satzes gar keine Rolle, taucht nur zuletzt tröstlich umspielt noch einmal auf.
Auf den gewaltigen Einleitungssatz folgen zwei gerade unverhältnismäßig knappe Sätze. Zunächst ein Andante-Mittelsatz (F-Dur), dessen Liedhaftes Thema immer wieder von kommentierenden Figuren »unterminiert« zu werden scheint, die sich zwischendurch bedrohlich ausbreiten.
Geradezu getrieben, ja gehetzt wirken die Giguen-Figuren des abschließenden Allegro vivace dessen lyrisches Gegenthema sich gegen die fortwährend vor sich selbst davonlaufende, rastlose, zuletzt in entfernteste Tonarten ausgreifende Bewegung nicht durchsetzen kann. Die Sonate schließt in unversöhnlichem a-Moll, wie sie begonnen hatte.
Oleg Maisenberg hat sich als einer der besten Schubert-Spieler in den Konzertsälen präsentiert, aber kaum Aufnahmen gemacht. Seine Darstellungen von Werken wie der c-Moll- und der B-Dur-Sonate aus der finalen Sonaten-Trias waren atemberaubend. Umso erfreulicher, daß zumindest eine Studioproduktion der a-Moll-Sonate D 784 für Orfeo entstand, die Maisenbergs Kunst, Klänge mit höchster Innenspannung aufzuladen beeindruckend demonstriert: Schon die ersten Takte kommen zwar auf Samtpfoten, aber voll lauernder Energie daher. In der Folge spielt Maisenberg die Kontraste und dramatischen Effekte kraftvoll aus, ohne daß die Tremoli und Akkordballungen je aufgesetzt wirkten. Auch der große Gesang des Mittelsatzes setzt sich über die heftigen Attacken, denen er zwischendurch ausgesetzt ist, gedanklich scheinbar nahtlos fort und bindet zuletzt die »Störfiguren« versöhnlich mit ein. Umso heftiger wirkt dann die trotzig auf dem Moll-Schluß beharrende Verfolgungsjagd des Finales, die durch die immer wieder aufscheinenden lyrischen »Argumente« letztlich nicht zu besänftigen ist.
Reife Experimente (1825/26)
→ D 840 C-Dur (»Reliquie«)
Die Parallelen zur drei Jahre zuvor liegen gebliebenen Unvollendeten Symphonie sind verblüffend: Auf dem Weg zur »großen Symphonie« suchte Schubert in Kammermusik und Klaviersonaten sein formales Können zu vervollkommnen, wie er in einem Brief Ende 1824 gestanden hatte. 1825 ist nun das Jahr groß angelegter Klaviersonaten, die - wie das Beispiel der erhaltenen Teile dieser C-Dur-Sonate beweist - orchestral angelegt sind.
Vollenden konnte Schubert von diesem Werk die ersten beiden Sätze. Wie im Falle der Unvollendeten brach er die Arbeit mitten im Scherzo ab. Wobei im Falle der Symphonie nicht ganz klar ist, ob nicht die h-Moll-Entr'act-Musik aus Rosamunde ursprünglich die Symphonie beenden hätte sollen. Das offenbar ehrgeizig ausgreifende Finale der Klaviersonate bricht im Entwurf nach der groß angelegten Exposition (mit drei Themen) ab. Vom dritten Satz ist das Trio (gis-Moll) komplett ausgeführt, der Scherzo-Teil hingegen nur fragmentarisch überliefert; Schubert enthält uns vor, wie er aus A-Dur in die Grundtonart As-Dur zurückgefunden hätte...
Die ersten beiden Sätze gehören aber zu den großen Schubert-Sätzen für Klavier: Das einleitende Moderato könnte der Klavierauszug eines Symphoniesatzes sein, fordert vom Pianisten jedenfalls eminente klangliche Differenzierungskunst zur Aufhellung der vielschichtigen, in ihrer breiten Entwicklung durchaus mit jenen der großen C-Dur-Symphonie verwandten Vorgänge, die ja ihrerseits bereits auf Brucknersche Dimensionen vorausweisen.
Das Andante (c-Moll) ist von liedhaftem Zuschnitt. Der sehr beredte Charakter der auf die einleitende Gesangsphrase antwortenden, geheimnisvollen Passage läßt an einen verschwiegenen Balladen-Text als Vorlage denken. Die immer weiter vorangetriebene Entwicklung dieser »Antwort« führt zu dramatischen Aufwallungen und gipfelt in einem abschließenden Dialog zwischen beiden Elementen, mit dem der Satz kraftvoll und nachdenklich zugleich schließt.
Swjatoslaw Richter hat bei diesem Livemitschnitt alles aufgenommen, was Schubert von dieser Sonate notiert hat. Und das ist mehr als man vermuten würde: Vom Menuett fehlt offenbar wirklich nur ein kleines Stückchen - und das Finale dauert in Richters Version mehr als sieben Minuten, ehe es gespenstisch mitten in einer quirligen Figur ins Leere läuft. Richter spielt gerade dieses Rondo mit jener leichtfüßigen Bravour, die Schubert als Zeitgenossen der brillanten Klavier-Virtuosen jener Ära zeigt, Hummel und Weber haben Ähnliches komponiert - allerdings ohne je annähernd den Tiefgang der ersten beiden Sätze zu erreichen, in denen der Schubert der »großen C-Dur-Symphonie« vor uns steht, der schon sein Hauptthema im Kopfsatz in einer behutsam aufgebauten Steigerung entwickelt, um es schließlich majestätisch aufzurichten.
→ D 845 a-Moll
Die a-Moll-Sonate erschien als »Erste große Sonate« in Druck. Von den als Serie geplanten vier Sonaten konnte Schubert nur die folgende D-Dur-Sonate als Deuxieme Sonate herausbringen. Folgen sollten noch eine Bearbeitung der Des-Dur-Sonate von 1817 (D 568) und die G-Dur-Sonate von 1826.
Die a-Moll-Sonate entstand im Umfeld des Sonaten-Versuchs in C-Dur, der während der Arbeit am Zweiten Satz abgebrochen wurde. Schubert suchte in jenen Jahren nach Lösungen für die von den Klassikern ererbten Form-Probleme. Klaviersonaten schienen ihm dafür ein taugliches Objekt.
Die a-Moll-Sonate begann er in einer schwierigen Lebensphase zu komponieren: Seine Lebenspartnerschaft mit Schober war nach dessen Verlobung mit der Schwester eines der Freunde aus dem Schubert-Kreis zerbrochen. Der Komponist zog in die Nähe des Maler-Freundes Moritz von Schwind, in dessen Lebenserinnerungen sich einige Dokumente über die allmähliche Verbesserung von Schuberts gesundheitlichem und seelischem Zustand in jenen Wochen und Monaten finden. Nach Vollendung der Sonate brach Schubert mit seinem Sänger-Freund Vogl zu einer Reise nach Oberösterreich auf, die den Komponisten in gehobene Stimmung versetzte.
Den zweiten Satz seiner neuen Sonate spielte Schubert anläßlich dieser Reise, die unter anderem in die Klöster St. Florian und Kremsmünster führte, wie er in einem Brief an die Eltern schreibt »nicht ohne Glück«. Dieses Schreiben enthält einige Anmerkungen über interpretatorische Fragen, die für Schubert-Spieler von Belang sind. Unter anderem heißt es, die kenntnisreichen Hörer hätte ihm versichert, daßdie Tasten unter meinen Händen zu singenden Stimmen würden, welches, wenn es wahr ist, mich sehr freut, weil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann.Das fragliche Andante poco mosso ist ein Variationssatz, der den geheimnisvoll anhebenen, dramatischen Kopfsatz von dem ebenfalls in klassischer Formgebung gehaltenen Scherzo mit Trio und dem Final-Rondo trennt.
Die Sonate erschien 1826 als »Première Grande Sonate« op. 42 mit einer Widmung an Erzherzog Rudolf, Beethovens Schüler, den Kardinal Erzbischof von Olmütz.
Dank der Drucklegung verbreitete sich diese Sonate recht schnell. Der Schweizer Musikpädagoge Hans Georg Nägeli war von dem Werk begeistert. Den ersten Satz der Sonate nannte Nägeli ein »Kapital-Stück« und bat in einem Brief an Carl Czerny um Vermittlung, Schubert möge einen Beitrag für seine musikalische Ehrenpforte komponieren. Schubert antwortet darauf mit einer Honorarforderung - in Nägelis Ehenpforte wurde er nicht aufgenommen...
→ D 850 D-Dur
Auf der Salzkammergut-Reise mit dem Tenor Michael Vogl machte Schubert auch in Bad Gastein Halt. Dort entstand binnen dreier Wochen die Sonate D-Dur, wie die folgende G-Dur-Sonate ein Werk von ehrgeizig großzügigem Umfang. Der avisierte Weg zur »großen Symphonie« war längst gegangen. Schubert schuf in seinen groß angelegten Werken immer neue Ausformungen des längst auf seine eigene Bedürfnisse zugeschnittenen viersätzigen klassischen Formmusters.
Der erste Satz wird thematisch von seinem resoluten Eingangsmotiv und von der schon eingangs festgeschriebenen Lust an modulatorischen Abenteuern beherrscht. Die Musik nimmt sich Zeit, Gedanken ausführlich zu hinterfragen und von allen erdenklichen Seiten zu beleuchten und zu diskutieren. So beherrschen - wie in den groß angelegten Beethoven-Sonaten - bereits die Exposition Durchführungs-Elemente.
Der lyrische zweite Satz in A-Dur durchwandert als abenteuerliches harmonisches Experiment mit immer neuen Varianten des Themas beinahe den gesamten Quintenzirkel.
Eine handfest zupackende Aufnahme dieser Sonate hat Emil Gilels (RCA) vorgelegt. Er tendiert weder zur Verzärtelung noch zu allzu langsamen Tempi, die manche Interpreten hier bevorzugen. Gilels macht Schubert als Beethoven-Zeitgenossen kenntlich, der freilich zu ganz eigenen Ergebnissen bei der Behandlung der Sonatenform kommt: Die oft überraschenden Einbrüche und Stimmungswechsel spielt er lustvoll aus.
→ D 894 G-Dur
Eine der »großen Sonaten« der Jahre 1825/26, fast eine Dreiviertelstunde dauernd, spiegelt die G-Dur-Sonate wie die vorangegangene »Gasteinersonate« Schuberts Wunsch, die große Form der klassischen Vorbilder zu erfüllen und für sich neu zu definieren. Robert Schumann hat einmal gemeint, mit dieser G-Dur-Sonate sei Schubert das am allerbesten gelungen. Sie entstand im Oktober 1826 und erschien im Jahre darauf bei Tobias Haslinger als »Fantasie, Andante, Menuetto und Allegretto«, also ausdrücklich nicht als »Sonate«. herausgegeben.
Schubert widmete das Werk seinem Freund Josef von Spaun, dem Gastgeber vieler der sogenannten Schubertiaden, bei denen viele neue Werke erstmals präsentiert worden. Es kann sein, daß anläßlich der vor 8. Dezember 1826 bei Spaun verbürgten Zusammenkunft der Freunde der fast 18 Minuten dauernde erste Satz der Sonate uraufgeführt wurde.
Unverwechselbar Schubert scheint schon der Kontrast zwischen dem ruhig strömenden, akkordischen Eingangs-Thema und dem folgenden lyrischen Liedthema - die beiden Elemente kontrastiert Schubert in der dramatisch zugespitzten Durchführung dieses Satzes wie im Regelbuch der klassischen - erst lang nach der Ära der Wiener Klassik festgeschriebenen Formenlehre.
Von starken Kontrastwirkungen lebt das aus einem schlichten D-Dur-Gesang entwickelte Andante, während das Scherzo in pochend-rhythmisiertem Tanzrhythmus dem trotzigen h-Moll-Hauptteil ein flüsternd-geheimnisvolles Trio in H-Dur entgegensetzt.
In das gemütlich anhebende Finalthema scheinen die Tonrepetitionen des Scherzo-Tanzes noch hereinzuklingen. Die gegensätzlichen Kräfte schaukeln sich in diesem Rondo mehrmals zu dramatischen Episoden auf, hier tänzerisch bewegt, dort dramatisch aufgebauscht, doch auch aus entfernten Tonarten immer wieder in den letztlich doch immer gemütlich wirkenden G-Dur-Erzählton des Hauptthemas einmündend.
DIE DREI LETZTEN SONATEN (1828)
Schubert dachte - wie schon bei den Werken des »Sonatenjahrs« 1826 an eine Serie von mehreren Sonaten, die gemeinsam in Druck gehen sollten. Aus der Korrespondenz mit Diabellis Kommissionär Heinrich Albert Probst geht hervor, daß die drei Werke D 958 - 960 Johann Nepomuk Hummel gewidmet werden sollten. Der posthume Erstdruck erschien 1839 freilich mit einer Widmung an Robert Schumann.
Mit den drei letzten Sonaten dringt Schubert - wie mit den Liedern des Schwanengesangs und mit dem Streichqintettt in Ausdrucksbereiche vor, die bereits weit über die Romantik hinaus weisen.
Mit den drei letzten Sonaten dringt Schubert - wie mit den Liedern des Schwanengesangs und mit dem Streichqintettt in Ausdrucksbereiche vor, die bereits weit über die Romantik hinaus weisen.
→ D 958 c-Moll
AllegroMit der c-Moll-Sonate hebt die Reihe der drei letzten Klaviersonaten aus Schuberts Todesjahr 1828 an, die der Komponist tatsächlich - wie die Sonaten der Jahre 1825/26 - als Serie plante und in den autographen Reinschriften mit I bis III numerierte.
Adagio
Menuetto. Allegro – Trio
Allegro
Es konnte nicht ausbleiben, daß die Kommentatoren - als erster Robert Schumann in einer Würdigung zu Schuberts zehntem Todestag aus Franz Schubert’s letzten Compositionen den Gedanken des nahen Scheidens heraushörten.Schuberts Modernität
Auch wenn er wohl bei der Komposition der drei Sonaten seinen nahen Tod nicht ahnen konnte, dringt der 31jährige Schubert in den Werken seiner letzten Lebensmonate - auch im später als Liederzyklus publizierten Schwanengesang und vor allem im Streichquintett - in musikalische Regionen des persönlichen Ausdrucks vor, die nie zuvor erschlossen worden waren - und die in dieser Radikalität auch erst an der Schwelle zur Moderne wieder formuliert werden sollten.
Für die Zeitgenossen und die folgende Generation, die Schubert zunächst in biedermeierlicher Heidenröslein-Idylle und schließlich im → Dreimäderlhaus ansiedelte, blieb die Musik hingegen unverständlich, woran sich in Wahrheit bis ins angehende XXI. Jahrhundert nicht viel geändert hat. Die Heine-Vertonungen aus dem sogenannten Schwanengesang wurden so wenig »populär« wie die ersten beiden dieser Sonaten-Dreifaltigkeit.
Dabei hat der Komponist hier die völlige Freiheit gegenüber dem viersätzigen klassischen Sonatenschema erreicht: Er nutzt nicht nur Melodik, Harmonik und Rhythmus, sondern auch formale Brüche und Akzentsetzungen, um seinen Hörern vollkommen subjektive Botschaften zu vermitteln. Erst Bruckner und Gustav Mahler wagen sich später wieder an dermaßen kontroversielle Aussagen und lassen Gegensätze so unvermittelt aufeinanderprallen.
Die scheinbar anarchische Erzählstruktur dieser Musik beschrieb Schumann:Als könne es gar kein Ende haben, nie verlegen um die Folge, immer musikalisch und gesangreich rieselt es von Seite zu Seite weiter, hier und da durch einzelne heftigere Regungen unterbrochen, die sich aber schnell wieder beruhigen.Schon im Eingangs-Allegroder c-Moll-Sonate klafft zwischen den völlig gegensätzlichen Charakteren, die einander als »Themen« gegenüber stehen ein unüberbrückbarer Graben, den die Durchführung eher noch weiter aufzureißen scheint als daß sie vermittelnd - oder entscheidend - eingriffe, vielmehr signalisiert die absteigenden Baßbewegung gegen Ende des Satzes eine Resignation, die wie ein dramaturgischer Kunstgriff nach einer klärenden Weiterführung des Diskurses zu verlangen scheint.
Dem entgegnet das Adagio zunächst mit einem tröstlichen Gesang, dem aber bald (fis.Moll) eine »Winterreisen«-Musik entgegentritt, die von pulsierender Triolenbewegung in heftige emotionale Aufwallungen getrieben wird.
Die Musik kommt nicht zur Ruhe. Sie scheint - wie in manchen Gesängen des großen Liederzklus, etwa dem Frühlingstraum immer auch die Negation jeglicher positiver Empfindungen schon in sich zu tragen.
So tanzt auch das scheinbar so biedermeierlich schreitende Menuett auf unsicherem Grund, stockt wischendurch als ob es nicht weiterwüßte oder von kuriosen Gedanken immer weiter aus der Bahn geworfen würde.
So viel Unsicherheit führt zu einem Finale, das in wildem Galopp vor sich selbst davonzurennen scheint. Wenn lyrische Gedanken aufkeimen, werden sie regelrecht verscheucht, zerstückelt, unkenntlich gemacht. Von dieser radikalen Methode der »Dekomposition« wird in der folgenden A-Dur-Sonate noch Gebraucht gemacht, ehe sich das abschließender B-Dur-Werk der Dreiergruppe in abgeklärte Gefilde aufmacht, in die nur noch entferntes Donnergrollen an erlittene Schmerzen erinnert. Mit der Sonate in c-Moll hebt jedenfalls eine außerordentliche, in der Musikgeschichte zuvor im wahrsten Sinn des Wortes unerhörte musikalische Seelenbespieglung an, die kompositionstechnisch - auch durch die kühne Chromatisierung - in neue, »moderne« Ausdrucksregionen vordringt.
→ D 959 A-Dur
AllegroIm Zentrum dieser Sonate steht einer der ungeheurlichsten Sätze, die - nicht nur - Schubert je komponiert hat: Das schlichte Lied-Thema des fis-Moll-Andantinos weicht einer dramatischen Szene, in der die Musik plötzlich alle Grenzen sprengt, das thematische Material zerreißt, ja regelrecht zerstückelt und rettungslos einem Abgrund zusteuert. Einen solchen Ausbruch negativer Energie gibt es frühestens in avantgardistischen Experimenten der sogenannten »Neuen Musik« etwa 100 Jahre später wieder. In der Romantik steht diese Passage einzigartig da - und verhindert wohl die weite Verbreitung dieser Sonate im Repertoire. Schuberts Radikalität scheint bis heute nicht nur einem Dreimäderlhaus-Publikum völlig unverständlich.
Andantino
Scherzo. Allego vivace
Rondo. Allegretto
Die A-Dur-Sonate ist die am wenigsten zugängliche der drei letzten Schubert-Sonaten. Entsprechend selten taucht sie in Konzertprogrammen auf. Erfreulich, daß sich Rudolf Serkin entschlossen hat, nicht nur - wie viele Kollegen - die abschließende B-Dur-Sonate (die er zweimal eingespielt hat) einer Aufnahme zu würdigen, sondern auch dieses Stiefkind, das unter seinen Händen seinen ganzen Zauber entfaltet, aber auch seine Abgründe preisgibt, gerade weil Serkin niemals mit »dramatischem« Nachdruck spielt, sondern die Musik natürlich sich entwickeln läßt; wodurch irrationale Einbrüche wie jene im Andantino umso heftigere Wirkung entfalten. Serkin spricht Schuberts Sprache quasi akzentfrei, er weiß, wo im Fluß einer Phrase unmerklich geatmet werden muß, um der Musik ihre natürliche Sprachmelodie zu sichern. So wird schon das akkordische Eingangs-Statement des ersten Satzes zu einer - wenn auch dramatisch geschärften - Gesangsphrase; und das Final-Thema strömt bei ungewöhnlich fließendem Zeitmaß voll Charme, wobei der melodische Bogen ganz selbstverständlich von der Oberstimme in den »Tenor« weitergereicht wird.
Diese Aufnahme blieb in ihrer musikantischen Selbstverständlichkeit auch in den Schubert-Gesamtdarstellungen von Schnabel, Kempff oder Brendel ohne Parallele.
→ D 960 B-Dur
Molto moderatoDiese Sonate hat von den drei späten Sonaten ein bemerkenswertes Eigenleben entfaltet, weil sie vor allem von russischen Pianisten geliebt und viel gespielt wurde. In der künstlerischen Vita von Vladimir Horowitz spielt sie eine eminente Rolle, weil es eine Aufführung dieser Sonate durch Rudolf Serkin war, die den Pianistenkollegen in eine tiefe Lebenskrise stürzte - Serkins Interpretation rührte Horowitz so tief, daß er beschloß, sich von den internationalen Podien zurückzuziehen und an sich und seine Künstlertum zu arbeiten. Die Pause dauerte jahrelang - und Schuberts B-Dur-Sonate beschäftigte Horowitz bis an sein Lebensende. Noch in seinen letzten Aufnahmesitzungen war sie Teil des Repertoires.
Andante sostenuto
Scherzo. Allego vivace con delicatezza
Allegro ma non troppo
Doch selbst ein geeichter Schubertianer wie Alfred Brendel hat mit den immensen Dimensionen dieses Werk seine liebe Not. Eine lange Abhandlung widmete der Pianist und Vorkämpfer des Schubertrepertoires seiner Teorie, daß entgegen seinen sonstigen Überzeugungen die Wiederholung der Exposition im Kopfsatz dieser Sonate unterbleiben dürfte. Diese allgemein geübte Praxis fügt allerdings der architektonischen Anlage des gewaltigen Satzes wirklich Schaden zu. Der Durchführungsteil wird nämlich von Erinnerungen an den geheimnisvollen Triller unterminiert, der unmittelbar nach dem ersten erklingen des Hauptthemenkopfes den melodischen Fluß unterbricht. Im Baß ertönt das seltsame Grollen, das zunächst nicht wiederkehr, aber wie ein Damoklesschwert über den Dingen schwebt. Schubert schreibt eine jäh hereinbrechende Fortissimovariante dieses Trillers in die »Prima Volta«o;-Passage unmittelbar vor dem Wiederholungszeichen am Ende der Exposition. Streicht man die Wiederholung, wie Brendel vorschlägt, ist dieses Fortissimo-Zitat der Trillers - gefolgt von der ursprünglichen Pianissimo-Version in den ersten Takten der Wiederholung nicht zu hören. Damit verliert das Auftreten des Trillers in der Durchführung erheblich an Brisanz und dramaturgischer Energie. Schuberts Bemühen um eine Neudefinition der Sonatensatzform erreicht mit diesem Satz, der zu den längsten je für Klavier komponierten Sonatensätzen zählt, eine neue Qualität, die Experimente der symphonischen Literatur der Spätromantik um Mahler oder Bruckner um Jahrzehnte vorwegnimmt.
Visionär nach den endlos verschlungenen Pfaden dieses einleitenden Molto moderato der magische Stillstand der Musik im folgenden Andante sostenuto. Dieser Satz ist lediglich mit dem Adagio aus dem zur selben Zeit entstandenen Streichquintett vergleichbar, ein schwebender Moment, in dem die Zeitdimension aufgehoben scheint.
Danach sind Scherzo und Finale von duftiger Leichtigkeit - eine Musik, »après&laqquo; »zu Ende mit allen Träumen« - wobei das Finale mit seinem immer wieder festgehaltenen unisono-G, dem Grundton der Moll-Parallele von B-Dur, bei aller Fröhlichkeit doch in seltsamer harmonischer Ambivalenz zu verharren scheint. Der affirmative Schluß, der letzte, den Schubert für ein groß angelegtes Werk geschrieben hat, wirkt ein wenig herbeigeredet - der 31jährige Komponist hätte noch allerhand zu sagen gehabt...
Aufnahmen
Die mediale Pioniertat
→ Artur Schnabels legendäre Aufnahmeserie von Schuberts Klavierwerken.Nicht verlässigen sollte man die Gesamtaufnahme der Sonaten durch Friedrich Wührer, einen beinah vergessenen, doch stilistisch sattelfesten Pianisten, der Schuberts Musik mit Feingefühl und delikater Anschlagkultur gerecht wird und in vielen Fällen zu tiefgründigen Deutungen fähig ist. Auf diversen Streaming-Diensten sind die Aufnahmen abrufbar. (Vox)
Vom Zugang her nicht unähnlich, gelang später Wilhelm Kempff eine grandiose Gesamteinspielung der Sonaten in technisch ungleich besserer Aufanhmequalität. Die Kassette wurde zu einem Schallplatten-Klassiker. (DG)