Die Legende vom Schwammerl
Ein Versuch aus dem Jahr 2016
Der Schubert-Kitsch
Unsere Zeit gibt sich ja unnachgiebig gegenüber der Verkitschung historischer Tatbestände. Zeit als, 100 Jahre nach der Uraufführung von Heinrich Bertés Operette Das Dreimäderlhaus einmal nachzufragen, wie es denn zum ungeheuren Siegeszug dieses Stücks - und der unsäglichen Verkitschung der Person und der Musik Franz Schuberts kommen konnte.
Nach der Premiere, 1916 am Raimundtheater, konnten sich die Wiener gar nicht sattsehen an der Geschichte vom armen Schubert Franzl, der sich nicht traut, den drei hübschen Töchtern des Glasermeisters Tschöll auf der Mölkerbastei den Hof zu machen.
Der
schüchterne und linkische, ganz seinem Schaffen lebende Komponist, wie er hier gezeichnet wird, wurde zum Inbegriff des introvertierten schöpferischen Menschen, der unfähig ist, sich in der Realität zurechtzufinden.
Das Bild, das sich die Welt von Franz Schubert macht, wurde von dieser Operette – wie von der erfolgreichen Verfilmung mit Johanna Matz und Karlheinz Böhm (1958) – geprägt, so nachhaltig, daß sich mehr als Spurenelemente bis heute gehalten haben.
Schubert litt auch am Broadway
Und zwar weltweit. Bald nach der Wiener Premiere spielte man das Dreimäderlhaus nicht nur im ganzen deutschen Sprachraum, man übersetzte es in viele Sprachen und adaptierte Handlung und musikalisches Arrangement für die Gebräuche des New Yorker Broadway ebenso wie für jene des Londoner West End. So wollte die Welt ihren Schubert sehen. Erfinder dieser für das wirkliche Leben so sympathisch untauglichen, in die Sphären der hehren klassischen Musik entrückten Kunstgestalt war übrigens weder Berté noch Franz von Suppé, der schon ein halbes Jahrhundert früher versucht hat, Schubert als Operettenhelden vorzustellen. Die Urgestalt der erfolgreichen Schubert-Vermarktung heißt „Schwammerl“, der Kosename, den die Freunde dem Komponisten tatsächlich gegeben haben und der dem Schubert-Roman von Rudolf Hans Bartsch von 1912 den Titel gab.
Nur "Gott hatte ihn lieb"...
„Schwammerl“ bot der Leserschaft eine der damals beliebten Gartenlauben-Studien über das Wesen des Künstlertums, angesiedelt im biedermeierlichen Wien und in ländlichen Idyllen, wo die „kleinen Leute“ am Berghang „in kleinen, reinlichen Häusern“ wohnen, inmitten einer „Welt der Bescheidenheit voll Liebreiz“.
Dem Künstler, auch wenn er „mausekahl in den Taschen“ ist, tut diese Welt kein Leids, zumindest so lang nicht, als er weiß, wo sein Platz ist: „Die drei einzigen, die's gut mit mir meinen“, lässt Bartsch Schubert sagen, „sind die Musik, der Schlaf und der Wein.“
Schweifen die Sehnsüchte freilich ab und träumen davon, „im Dreimäderlhaus auf
der Bastei einen Besuch zu machen und Haupt an Haupt mit dem braunen und dem blonden und dem schwarzen Kopferl nach Süden zu schauen“, dann ist das Erwachen bitter: Die jungen Damen wollen umworben und gebeten werden, eine Direktheit, zu der sich der scheue Künstler nicht so leicht durchzuringen vermag wie beispielsweise der bodenständige Sattlermeister.
Doch tröstet uns der Dichter: „Gott hatte ihn lieb“, weiß Bartsch über Schubert zu singen. Das bittere Leid dreimaliger Zurückweisung – die vom Operetten-Libretto freundlicherweise auf nur eine reduziert wird – weist dem „kleinen Regenten der Harmonien“ seinen Platz zu:
„Gottes Güte verwandelt die Seufzer in Herrlichkeit und Seligkeit.“
Dafür ist der Mann ja schließlich auf die Welt gekommen, daß er Werke wie sein Streichquintett zu Papier bringen möge, dessen unergründliche Tiefe tatsächlich die Hörer bis heute anrührt. Unergründlich?
Bartsch hat das Rätsel längst gelöst:
Das Bodenlose seines Enterbtseins, das Hingreifen nach den Händen der vielen Heimgegangenen, das Allerseelenleid, es kroch zwischen alle Noten und fraß sich an Tönen satt.
Dem bei solchem Tun unausbleiblichen Rülpser bieten zwar 352 Romanseiten, nicht aber ein Abend auf einer Operettenbühne Raum zur Entfaltung.
Titanentreffen im Sturmgebraus
Man muß schon das Buch lesen, um zu erfahren, wie der „kleine“ Schubert in Sturmgebraus dem unerreichbaren Beethoven begegnet:
Da war der Titan auch schon in der Ferne zu sehen; wild und ungeschlacht stampfte er gegen die Windsbraut an, den Schädel gesenkt wie ein stürmender Stier.
Zwei Seiten früher war Beethoven, am Kärntnertor, „in einer aufbrausenden Staubwolke“ noch als „ein wilder Eber“ erschienen; doch erfahren wir zuletzt, dass er ausdrücklich konstatiert haben soll: „In dem Schubert steckt der göttliche Funke!“
Dem will ja nun wirklich niemand widersprechen, vor allem nicht angehörs der schönen Melodien, die Heinrich Berté zur Geschichte von „Heiderl und Hederl und Hannerl“ artig miteinander verknüpft
hat, Rosamunde mit einem Impromptu, Walzer mit Sonatentakten, und zwischendrin die Unvollendete, aber nur das schöne G-Dur-Thema, versteht sich. Es ist zwar ein Lied von der Einsamkeit, aber von der Einsamkeit in der guten alten Zeit...