M O Z A R T

Geistliche Musik

Die Musik zu Polidoros Arie »Cosa ha mai la donna indosso« aus seiner Oper La finta semplice von 1769 entnimmt Mozart übrigens seinem geistlichen Singspiel »Die Schuldigkeit des ersten Gebots«. Anders als einst Johann Sebastian Bach bereitet es ihm keine Probleme, Musik, die zu Ehren Gottes komponiert war, für weltliche Zwecke zu »parodieren«, wie der Fachausdruck für solche Arrangements heißt. Bei Bach gibt es Parodien beinahe ausschlißlich nur in »aufwertender« Richtung, etwa die Musik, die aus weltlichen Kantaten in das sogenannte »Weihnachtsoratorium« oder in die »Hohe Messe« einfloß.
Mozart bietet hier den Fall einer umgekehrten Parodie. Er wird später auch die nur als Fragment vorliegende gigantische c-Moll-Messe zu einem – allerdings geistlichen – Oratorium umwandeln. Doch das geschieht zu einer Zeit, da er kaum mehr liturgische Musik schreibt.

Sämtliche Vertonungen des Meßordinariums, die er – nebst etlichen kürzeren Motetten, Offertorien und einzelnen Kyrie-Kompositionen – vollendet, entstehen in seiner Salzburger Zeit. Und es sind viele Stücke, die schon der junge Mozart in diesem Genre vorlegt, mehrheitlich dem Prinzip der Missa brevis verpflichtet, die in Salzburg ihrem Namen alle Ehre macht.

Das Gebot äußerster Knappheit

Kurz muß die Musik sein, dekretiert der Fürsterz- bischof, denn der Gottesdienst soll durch die tönende Umrahmung nicht über Gebühr in die Länge gezogen werden. Die Komponisten greifen in dieser Zeit zu einem Trick, um die enormen Textmassen der beiden langen Ordinariumsteile, Gloria und Credo, in der vorgeschriebenen Kürze bewältigen zu können. Sie teilen die Worte auf die Chorstimmen auf und lassen jeweils zwei Textzeilen gleichzeitig singen. Diese sogenannte Polytextur, die auch bei kurzen Messen eines Joseph Haydn zu finden ist, ist keineswegs ein Salzburger Phänomen. Man empfindet sie auch etwa in Wien nicht als despektierlich.

Die erste Messe für Wien

Für Wien entsteht 1768 auch Mozarts erste Missa brevis in G-Dur (KV 49). Der Zwölfjährige hält sich an die knappen Vorgaben. Das Kyrie umfaßt lediglich 37 Takte, sämtliche Sätze sind mehrheitlich schlicht und homophon gesetzt, nur im Credo findet sich die eine oder andere auffällig um Textausdeutung bemühte Passage, etwa die absteigende Tonfolge beim Wort »passus« oder das seit dem Barock übliche musikalische Kreuzsymbol beim »crucifixus«.

Die im Jahr darauf zur Einbegleitung des vierzigtägigen Fastengebets in Salzburg komponierte Missa brevis in d-Moll (KV 65) klingt elaborierter, bietet vor allem den ersten jener innigen Benedictus-Gesänge, die für Mozart so charakteristisch sein werden: hier im Duett zwischen Sopran und Alt. Immer gehört zu den Ordinarien – aller anbefohlenen Kürze zum Trotz – eine der sogenannten »Kirchensonaten«, die zwischen Lesung und Evangelium erklingen und daher »Epistelsonaten« getauft werden. Galant-elegante Allegro-Sätze für die Salzburger Besetzung von zwei Violinen und Baß, nur gelegentlich durch Bläser oder (KV 336) konzertierende Orgel angereichert. Solche klanglichen Überhöhungen sind nur erlaubt, wenn der Erzbischof selbst ein Hochamt zelebriert – da empfangen ihn auch Trompeten und Pauken bei seinem Einzug in den Dom. Im übrigen ist die kleinbesetzte Missa brevis, vom Streicherensemble begleitet, der Regelfall.

Die »Grabmusik«

Vor den ersten Meßordinarien entstehen für geistliche Zwecke die sogenannte »Grabmusik« (KV 42) und das bereits erwähnte geistliche Singspiel KV 35 »Die Schuldigkeit des ersten Gebots«, für das Mozart den ersten Teil, die Komponisten Michael Haydn und Anton Cajetan Adelgasser die weiteren Teile in Musik setzen.

Damit steht der Zwölfjährige bereits in einer Reihe mit den damals in Salzburg führenden Meistern der Kirchenmusik. Er findet für den Dialog zwischen Weltgeist und Christgeist zu den Worten des Textilhändlers und Salzburger Ratsherrn Ignaz Anton Weiser erstaunlich plastische Themen, die auf die Beschäftigung mit den althergebrachten kompositorisch-rhetorischen Figuren schließen lassen. »Mit Jammer muß ich schauen/ Unzählig teure Seelen/In meines Feindes Klauen«, singt der Christgeist – und Geigen wie Bratschen »jammern« chromatisch abfallend mit ihm. Das Gebrüll des von der »Barmherzigkeit« beschworenen Löwen, »der die Welt mit Forcht erfüllt«, malen die Streicher mit grimmig wühlenden Sechzehntelfiguren. Ähnliche Kunstmittel wendet der junge Komponist als gelehriger Schüler seiner bekannten Zeitgenossen auch in der »Grabmusik« an, wo in zwei Arien und einem Duett samt Schlußchor zur Anbetung des Heiligen Grabes in der Karwoche 1767 von »brüllenden Donnern« und »krachenden Felsen« die Rede ist.

Es heißt, Fürsterzbischof Graf Schrattenbach hätte den Knaben Mozart mit dem Text einsperren lassen, um zu sehen, ob er tatsächlich imstande sei, die Musik darauf allein zu komponieren. Wenn es der Fall ist, wird der Herrscher über die Phantasie des jugendlichen Genies ebenso gestaunt haben wie über das unzweifelhaft bereits vorhandene formal-handwerkliche Können.

Wie ein Gegenbild zu den wild-expressiven Klangbildern jener kindlichen Versuche klingt die vermutlich 1773 entstandene besonders schlichte, liedhafte Messe in G-Dur, die von der Nachwelt aufgrund ihrer Faktur lange als unecht qualifiziert werden wird (KV 140).

Im Jahr darauf schreibt Mozart die Missa brevis in F-Dur (KV 192), der man den Beinamen »kleine Credo-Messe« – im Gegensatz zur großdimensionierten »Credo-Messe« KV 257 – gibt, weil die gregorianische Intonation des »Credo in unum Deum« sich strukturfestigend durch den gesamten Satz zieht – und Mozartfreunde aufhorchen läßt, ist sie doch identisch mit dem berühmten Fugenmotiv der späteren »Jupiter-Symphonie«, das bereits im langsamen Satz der allerersten Symphonie (KV 16) erklungen ist.

Besonders kurz, doch enorm vital und expressiv faßt sich der Komponist in der D-Dur Messe KV 194, die beim »Et incarnatus est« eine bemerkenswert herbe h-Moll-Passage enthält, eine Tonart, die zuletzt im »Agnus Dei« wieder aufgenommen wird und melancholische Farbwirkungen beschert. Ganz ohne Bläserstimmen kommt Mozart in seiner letzten Missa brevis (KV 275) aus, die er 1777 in Salzburg schreibt, liedhaft, poetisch, ganz zurückgenommen, mit einer zauberhaften Arie en miniature für Sopran als Benedictus.

Mit Pauken und Trompeten

Diesen knapp formulierten Werken stehen die ausladenden, vor allem mit großen Besetzungen samt Pauken und Trompeten aufwartenden festlichen Messen für die Ausgestaltung der Hochämter gegenüber. Ein c-Moll-Werk (KV 139) macht hier den Anfang, von dem man annimmt, es sei die für die Einweihung der Wiener Waisenhauskirche komponierte »Missa solemnis«, die nach den Quellen – anders als die Oper »La finta semplice« – tatsächlich auch aufgeführt wird. Schon der ausladende Beginn mit der hymnisch aufrauschenden Adagio-Einleitung des Kyrie erweist den Ehrgeiz des jungen Komponisten zur großen Formgebung. Im Allegro-Hauptteil ist mit der Wendung nach C-Dur erst die eigentliche Haupttonart der Messe erreicht. Ein Nebeneinander von kraftvollen homophonen Chorsätzen, ehrgeizigen kontrapunktischen Passagen und ariosen Solopartien kennzeichnet den Gesamtablauf des Werks.

1769 entsteht die sogenannte »Dominicus-Messe« (KV 66) zur Primiz von Mozarts Jugendfreund Kajetan Hagenauer, der als Bruder Dominik seine erste Messe in der Peterskirche zelebriert. Auch hier wieder mischt der Komponist unterschiedlichste Stilmittel – und setzt des öfteren harte Kontrastwirkungen.

Sechsmal C-Dur

Sechs C-Dur-Messen folgen nun zwischen 1773 und 1779, von der »Dreifaltigkeitsmesse« (KV 167) bis zur sogenannten »Krönungsmesse« KV 317, die den Schlußstein hinter die geistlichen Kompositionen der Salzburger Zeit setzt und nicht nur mit dem bewegenden F-Dur-Gesang des »Agnus Dei«, der beinahe wörtlich als Auftrittsarie der Gräfin (»Dove sono«) in der »Hochzeit des Figaro« wiederkehren wird, auf die Reifewerke der Wiener Zeit vorausweist.

Die Erscheinungsformen dieser C-Dur-Messen könnten variantenreicher, unterschiedlicher nicht sein.

»Credo-Messe«

So finden wir in KV 257, die Mozart nur für Chor und Orchester setzt, überhaupt keine ariosen Elemente, dafür aber auch keine kontrapunktischen Passagen im üblichen barockisierenden Zuschnitt, als wollte der Komponist die Probe aufs Exempel wagen, was mit der dialogischen Gegenüberstellung von Singund Instrumentalstimmen zwischen den beiden Extrempunkten Arie und Fuge möglich sein kann. So wird diese »Credo-Messe« zu einem Höheund Wendepunkt in seinem Schaffen. Alfred Einstein meint, »eine Revolution in seinem Innern – veranlaßt durch ein aufwühlendes Erlebnis«, müsse den Anstoß zur Komposition gegeben haben. Der Eindruck, den vor allem das Credo mit seinem unablässig wiederkehrenden Statement der erratischen Bekräftigung des Glaubens erweckt, ist tatsächlich ehrfurchtgebietend. Ebenso freilich die Ballung der Kirchenkompositionen völlig unterschiedlichen Zuschnitts in den Monaten darauf.

In KV 259 verwendet Mozart im Benedictus die Orgel als konzertierendes Instrument, was dem im übrigen eher sachlich-distanziert tönenden Werk seinen Beinamen »Orgelsolomesse« eingetragen hat.

Die »auffällige« Missa KV 258

Derselbe Satz ist in KV 258 ein forsch-rasantes Allegro, in dem die Solostimmen blockartig gegen den Chor gesetzt werden. Diese Messe weist einige besonders auffällige Textdeutungen auf, die expressiv klagenden Gesten im Sopransolo zu Beginn des »Et incarnatus est« und die energisch hochfahrenden Figuren, die beim »Resurrexit« die Auferstehung symbolisieren.

Die »Missa longa«

Herausgehoben durch ihren äußeren Umfang wie durch die explizite Verwendung des Kontrapunkts ist die offenbar im selben Jahr entstandene »Missa longa« (KV 262). Sie scheint dem fürsterzbischöflichen Gebot der Kürze und der damit verbundenen Ächtung der barockisierenden Schlußfugen in Gloria und Credo zu widersprechen, stellt aber ein Dokument äußerster handwerklicher Kunstbeherrschung dar, die Hand in Hand geht mit hochexpressiven Momenten bildhafter musikalischer Erzählweise, vor allem in den zerklüfteten Klängen des »Qui tollis«.

Das Oratorium

Nur ein einziges Oratorium stammt aus Mozarts Feder. Es entstand als Auftragswerk anläßlich der Italien-Reise 1770 für eine Aufführung in Padua, die allerdings vermutlich nie stattgefunden hat. Mozart vertonte Metastasios La Betulia liberata und hielt diese Partitur noch in seiner Wiener Zeit in Ehren!

Die großen Fragmente

Nur zweimal versucht Mozart späterhin noch, große Messen zu komponieren, beide Male scheitert er. Über der Arbeit im »Requiem« stirbt er 1791, acht Jahre zuvor läßt er Fragmente einer c-Moll-Messe unvollendet liegen. Er hat sie im Herbst 1782 begonnen, einem Gelübde folgend, das er vor der Hochzeit mit Constanze Weber tat. Er führt den Torso, vielleicht ergänzt durch Aus- schnitte aus früheren Meßkompositionen, in Salzburg zwar auf, als er seine Frau dem Vater, der die Heirat mißbilligt, präsentiert.

»Davidde penitente«

Doch verwendet er fertige Teile des c-Moll- Werks für die Kantate »Davidde penitente« (KV 469), um die enorme Ausdruckskraft der kunstvoll traditionellen und modernen Stil vereinenden Musik immerhin auf diese Weise für den praktischen Gebrauch zu retten. Die einzigartige Gabe Mozarts, schlichten Ausdruck und höchste artifizielle Beherrschung des Handwerks zu vereinen, wird auch in den »Requiem«-Fragmenten (KV 626) offenbar, wo innige Klänge, wie sie etwa in Paminas g-MollArie der »Zauberflöte« anklingen, harmonisch neben archaischen Mustern wie der Kyrie-Fuge stehen, die nicht nur in geistlichen Werken der Zeitgenossen, sondern – erstaunlich deckungsgleich in beiden Themen – etwa auch in Joseph Haydns Streichquartett f-Moll vorgebildet sind.

mehr zum »Requiem«

Litaneien und Vespern

Die Vereinigung der unvereinbar scheinenden Stile übt Mozart bereits in den Litaneien und Vespern, die er für die Salzburger Liturgie komponiert. Da stehen strenge Formen neben virtuosen Arien (etwa das »Laudate Dominum« am Ende der »Vesperae de Dominica«, KV 321) oder das innige, von verhaltener Ekstase erfüllte Gegenstück der »Vesperae solennes de Confessore«, KV 339, in dem die Sprache der sensiblen Seelenporträts der späten Opern in Reinkultur vorgebildet ist.

Zu vielen Spekulationen hat die Tatsache geführt, daß Mozarts kirchenmusikalische Produktion mit der Übersiedlung nach Wien so gut wie völlig zum Erliegen kommt. Doch ist entgegenzuhalten, daß er sein Leben lang beinah ausschließlich für bestimmte Anlässe komponiert und die Chancen für anspruchsvolles liturgisches Musizieren im Wien der Ära Josephs II drastisch gesunken sind.

Die berüchtigte Reformwut des Kaisers betrifft nicht zuletzt katholische Gebräuche. Seit 1783 sind zahllose Kirchenmusiker in kaiserlichen Landen arbeitslos, weil Joseph zur Gestaltung der Gottesdienste ausdrücklich die »opernhaften« Messen zugunsten leicht faßlicher Gemeindelieder zurückgedrängt sehen will.

»Kyrie« für St. Stephan?

Doch als für kurze Frist die trügerische Aussicht besteht, Anstellung als Domkapellmeister von St. Stephan zu finden, beginnt Mozart, wie es scheint, sogleich mit der Komposition einer Messe. Von ihr wird freilich nur ein expressives Kyrie in d-Moll (KV 341) vollendet. Musik von bewegender Kraft und innerer Größe – man wird sie lange Zeit, fälschlich, für ein Werk der Münchner »Idomeneo«-Zeit halten.

»Ave verum«

1791 entsteht dann noch das so schlichte wie anrührende »Ave verum« (KV 618). Musik eines Agnostikers, zu dem viele spätere Kommentatoren Mozart gern stilisieren würden, ist das gewiß nicht.



↑DA CAPO