Oft bricht der Komponist im Sinne eines freien Melodieflusses auch die gewohnte Vieroder Achttaktigkeit der Phrasen. Was später – denken wir nur an den kühnen Anfang des »Klarinettenquintetts« (KV 588) – zu balladesken Freiheiten führt, ist schon angelegt in scheinbar absichtslosen Grenzüberschreitungen wie jener in den ersten Takten des Mittelsatzes der ersten Münchner Sonate (KV 279), wo der kühne Sprung auf das zweigestrichene B wider Erwarten zweimal ausgeführt wird, die Melodie expressiv weitend. Der natürliche Ausdruck, die rhetorische Betonung einer Aussage dominieren über simples architektonisches Symmetriedenken. Die Seufzer, in die diese Entwicklung bald mündet, tun das Ihrige: Hier verpflanzt der Dramatiker durchaus opernhafte Schaustellung ins Reich der Instrumentalmusik.
An solchen pittoresken Gesten sind die sechs Sonaten (KV 279–284) reich, ob im Detail oder in großen Zügen. In KV 280 bietet der Mittelsatz eine große melancholische f-Moll-Szene im Siciliano-Rhythmus, dessen sanft wiegende Bewegung von den Schlußtakten der Exposition in Frage gestellt und in der kurzen Durchführung dann gänzlich aufgebrochen wird. Die Reprise tritt forsch in c-Moll ein und wendet die Erzählung, die zunächst so mild nach As-Dur gewechselt hatte, schmerzlich in die Grundtonart zurück. Das frisch-fröhliche Presto, das sich anschließt, scheint – wie so oft – allen Hörern eine lange Nase drehen zu wollen, die sich ob solcher Empfindsamkeit zu sehr ins Melancholische verloren haben. Das Seitenthema tönt mit seinem punktierten Rhythmus wie eine Parodie auf das eben gehörte Siciliano. Elegische Stimmungen räumt Mozart ebenso schnell wieder aus, wie er sie – oft schockierend – zu evozieren versteht. Das ist sein Naturell, das ihn auch daran hindert, die innig verschlungenen Bewegungen im tatsächlich liebevoll klingenden »Andante amoroso« von KV 281 ohne Kontrastwirkungen (die stampfenden Bässe am Beginn des Seitenthemas) strömen zu lassen.
Formal ungewöhnlich gebaut ist die Es-Dur-Sonate (KV 282). Sie spannt von einem introvertiert-expressiven Adagio über ein Menuett und ein von Oktavsprüngen beherrschtes Allegro-Finale ein dynamisches Crescendo, das von zarter Seelenbespiegelung zu theatralischer Virtuosität findet. In der G-Dur-Sonate erweist Mozart gleich mit dem herrlich ausschwingenden Kopfmotiv, daß es eine ganz spezielle, nämlich in Wahrheit kaum singbare Kantabilität in der Instrumentalmusik geben kann. Das ausgewogene Werk kontrastiert den bewegend persönlich gefärbten Mittelsatz mit einem ausgelassenen, von einem jauchzenden Thema beherrschten Presto-Finale.
Die letzte der sechs Münchner Sonaten wirkt wie eine Absichtserklärung. Sie ist breiter ausgeführt als die Vorgängerstücke und tönt mit ihrem Polonaisen-Mittelsatz, vor allem aber der ausführlichen Variationenreihe über ein nobles Andante-Thema äußerst repräsentativ. Im ersten Allegro spielt Mozart überdies mit der damals herrschenden Mode des Überkreuzspielens: Die linke Hand greift über die rechte – ein durchaus szenisches Moment für den Interpreten.
Ganz auf Prachtentfaltung eingerichtet sind auch zwei der drei Werke, die die nächste Gruppe in Mozarts Sonatenschaffen bilden: Das für die bezaubernde Rose Cannabich, die 13jährige Tochter des Mannheimer Hofkapellmeisters, komponierte C-Dur-Stück (»Wie das andante, so ist sie«, schwärmt Mozart), das mit einem ähnlichen Unisono-Thema anhebt wie die spätere, von ähnlichem Esprit und Spiellaune getragene Sonate für zwei Klaviere (KV 448) und die ebenfalls aus Mannheim stammende D-Dur-Sonate (KV 311), in der sich ein schönes Beispiel dafür findet, wie Mozart zuweilen ganz unscheinbar eingeführte Motivelemente in der Durchführung zu ungeahnter Bedeutung wachsen läßt, während die sogenannten Hauptthemen geradezu durch die Hintertür zurückkehren.
Welch amüsanter Kontrast zum ganz und gar unversöhnlich-tragischen Ton der a-Moll-Sonate (KV 310), die im Sommer 1778 in Paris entsteht, vielleicht in jener Zeit, in der Mozart die Mutter sterben sieht. Schroffer, abweisender komponiert er selten. Schmerzensmale prägen sogar den ausdrücklich »con espressione« zu musizierenden Mittelsatz, der zwar in F-Dur anhebt, geradezu verklärt-stille Momente in C-Dur erreicht, sich dann aber Durchführungsarbeit zu grellen Akzenten ballt. Es folgt ein unablässig rasendes a-Moll-Finale, dem auch durch die weiche A-Dur-Episode kein Trost zuteil wird.
Mozart schafft dieser Sonate 1784 ein Gegenstück in c-Moll (KV 457), dem er für den Druck noch eine hochexpressive Phantasie (KV 475) voranstellt. Hier wirkt die Musik noch kompromißloser, hie und da sogar formal zerklüftet, nützt den gesamten Tonumfang des damaligen Pianofortes für die Befriedigung der unversöhnlichen Ausdruckswut.
Mozart nimmt nach längerer Pause erst 1783 die Komposition von Klaviersonaten wieder auf. Mit einem C-Dur-Werk (KV 330), das wieder alle später definierten Formgesetze Lügen straft, denn schon im Eingangs-Allegro herrscht ein geradezu anarchisches Gedrängel unterschiedlichster Einfälle. Wie danach auch in der ebenfalls in der Reihe des »Opus VI« bei Artaria publizierten F-Dur-Sonate (KV 332) keine Spur von gebändigtem Dialog zwischen Hauptund Seitenthema. Herrlich abgetönt der Mittelteil des »Andante cantabile«, in dem das F-DurGesangsthema behutsam nach Moll schattiert wird.
Zu den originellsten und gleichzeitig berühmtesten Mozart-Kompositionen gehört die A-Dur-Sonate (KV 331) von 1783, die – ungewöhnlich genug – mit einem zart schwebenden Variationensatz beginnt und dann über ein originell alle metrischen Schemata sprengendes Menuett zum berühmten »alla turca« führt, Mozarts Reverenz vor einer exotisierenden Mode, die er zuvor schon in seinem Singspiel »Die Entführung aus dem Serail« zu dramatischem Effekt zu nutzen verstand.
Ein kühner Gegenentwurf zu solch verspielter Theatralik ist dann die polyphone Kunstfertigkeit der F-Dur-Sonate, die der Komponist aus zwei unabhängigen Stücken (KV 533 und 494) zusammenfügt, denen Johann Sebastian Bach jedenfalls mittelbar als Inspirationsquelle dient.
Die hier erreichte Freiheit in der Führung selbständiger Stimmen kommt, wenn man so will, den beiden letzten großen Sonaten, (B-Dur, KV 570, und D-Dur, KV 576) von 1789 zugute, in denen sich galanter, empfindsamer und gelehrt-kontrapunktischer Stil in unglaublicher Leichtigkeit mischen. Mozart erreicht hier in der Soloklaviermusik dieselbe Souveränität wie in den zwischen allen Stilen vermittelnden Da-Ponte-Opern und in den an Haydn geschulten Streichquartetten jener
Zeit.
Wie souverän, lehrt ein Blick auf das Allegretto-Finale von KV 576, dessen Thema in volksliedhafter Schlichtheit daherkommt, um sogleich den kompliziertesten Satzkünsten zugeführt zu werden, ohne dabei seine Natürlichkeit zu verlieren. Solch atemberaubender Sicherheit im Zusammenführen kompositorischer Meisterschaft mit charmantester Inspiration verdankt sich der Zauber dieser Musik – freilich auch das romantische Mißverständnis, man könne sie als unkomplizierte Unterhaltung konsumieren.
Das gelingt dem, der zu hören versteht, nicht einmal bei der sogenannten »Sonata facile«, die so leicht nicht darzustellen ist, wie ihr Titel verheißt. Selbst hier, wo auch die Formensprache aufs Wesentliche reduziert zu sein scheint, spielt Mozart mit unseren Hörerwartungen, läßt die Reprise des Stirnsatzes in F-Dur beginnen und komponiert dennoch die Überleitung zum Seitenthema mit einem raffinierten Kunstgriff um; obwohl das in diesem Fall gerade nicht nötig gewesen wäre, um im Seitensatz regelrecht in der Tonika zu landen . . .
Den völlig introvertierten, wie sich selbst erforschenden Mozart finden wir in manchen Klaviersolostücken freier Form, vor allem im schmerzlich-schönen h-Moll-Adagio KV 540 (1788), interessanterweise auch in einigen der Stücke für die mechanische Orgelwalze, vor allem KV 594 und KV 608: Sie sind zur Verwendung in jenem Mausoleum bestimmt, das Graf Deym dem Eroberer von Belgrad, Feldmarschall Laudon, errichten läßt und in dem nach Laudons Tod, 1790, während der Besuchszeiten jeweils zur vollen Stunde Musik aus einer automatischen Orgel ertönt.
Dem kuriosen Anlaß entspricht Mozarts Musik kaum: Sie ist von ernster, tiefgründiger Art. Beide Werke sind dreiteilig, ein ausdrucksvolles f-Moll-Adagio umrahmt in KV 594 ein martialisches, in KV 608 ein lyrisch-gesangliches Intermezzo.
Das moderne Klavier ermöglicht dem Pianisten, die Süße des Clavichords mit der Schärfe des Cembalos zu kombinieren. So wird das moderne Klavier, ein wunderbares Instrument, unvergleichlich in seiner Vielseitigkeit, um tausend neue Nuancen bereichert und bringt uns die authentische Farbe der Tasteninstrumente Mozarts.Landowsa spielt nun den Steinway so differenziert, daß man Leopold Mozarts Diktum verstehen kann, ein Clavichord verfüge über »einen Diskant wie eine leise gespielte Geige und Baßtöne wie Posaunen«. Landowska die Es-Dur-Sonate spielen zu hören und ihre Aufnahme mit jener Conrad Hansens zu vergleichen, der ein Instrument der Mozart-Zeit sielt, ist höchst aufschlußreich - auch in der Erkenntnis, zu welchen erstaunlichen Klangfarben ein moderner Steinway fähig sein kann.