Johannes Brahms

Zu den Werken

Die Symphonien

Das d-Moll-Klavierkonzert

Das B-Dur-Klavierkonzert


Das Violinkonzert


Die Serenaden


KAMMERMUSIK

Klavierquartett op. 25 - orchestriert von A. Schönberg



Biographisches

Den entscheidenden Anstoß zum Ruhm des Komponisten Johannes Brahms gab ein anderer Komponist: Robert Schumann. Als er den 23 Jahre jüngeren Hanseaten entdeckte, drang er darauf, daß der all seine Scheu abzulegen hatte und seine Werke, die er, Schumann, allesamt für exzellent hielt, endlich zu publizieren. Der Brief an den Verleger, den Brahms daraufhin schrieb, ist legendär:
Dr. Schumann betreibt meine Sachen bei Breitkopf & Härtel so ernstlich und so dringend, daß mir schwindlig wird. Er meint, ich müsse vielleicht in sechs Tagen die ersten Werke hinschicken … Ich weiß mich gar nicht zu fassen.
Am 30. September 1853 war Brahms im Hause Schumann zu Düsseldorf vorstellig geworden.
Das ist wieder einmal einer, der kommt wie eigens von Gott gesandt!
So heißt es im Tagebuch Clara Schumanns, die zu Brahms' »Lebensmensch« werden sollte. Robert Schumann war begeistert und verfaßte einen in der Musikgeschichte einzigartig dastehenden Zeitungsartikel unter dem Titel Neue Bahnen, der das junge Genie Brahms der Welt bekannt machte. Schumann beschreibt ihn als
ein junges Blut, an dessen Wiege Helden und Grazien Wache hielten. Er … kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend … Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigten: das ist ein Berufener.
Der Name Brahms war über Nacht ein Begriff für die Musikwelt. Der schüchterne junge Mann stöhnte unter der Last dieses jähen Ruhms, fügte sich aber dessen Wunsch und gab innerhalb eines Jahres zehn Werke heraus, die er zuvor zurückgehalten hatte darunter seine drei Klaviersonaten. Nicht nur im Falle des Klaviertrios op. 8 hat Brahms diese Eile später bereut und das Werk dreieinhalb Jahrzehnte später quasi neu komponiert und unter derselben Opuszahl noch einmal ediert. Dabei war dieses Werk noch nicht einmal das erste Klaviertrio, das Brahms komponiert hatte und später verwarf und vernichtete. Wie im Fall der Streichquartette weiß man von etlichen Versuchen in dieser Gattung. Ein Klaviertrio, aus dem er bei seinem Antrittsbesuch bei Schumanns die Phantasie in d-moll (ein »Largo« und ein »Allegro«) vorgetragen hatte, und das die Nachbarschaft von Schumanns Opus 110 gut vertragen hatte, konnte Brahms damals schon zurückhalten. An Schumann schrieb er entschuldigend:
Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich denselben einigermaßen gerecht werden kann. Vor allen Dingen veranlaßt es mich zur größten Vorsicht bei der Wahl der herauszugebenden Sachen. Ich denke keines meiner Trios herauszugeben… Sie werden es natürlich finden, daß ich mit aller Kraft strebe, Ihnen so wenig Schande als möglich zu machen…
Die Musik des d-Moll-Trios ist wie so vieles andere aus Brahms' Werkstatt, das vor den Augen und Ohren seines Schöpfers keine Gnade gefunden hat, verloren, denn Brahms hat das Manuskript wie so viele andere vernichtet. Den Großteil bei einem regelrechten Autodafé im Jahre 1883.

Seinem Biographen Max Kalbeck bekannte der Komponist viel später:
Das Zeug ist alles verbrannt worden. Die Kisten mit den alten Skripturen standen lange in Hamburg. Als ich vor zwei oder drei Jahren dort war, ging ich auf den Boden – die ganze Kammer war aufs schönste mit meinen Noten tapeziert, sogar die Decke. Ich brauchte mich nur auf den Rücken zu legen, um meine Sonaten und Quartette zu bewundern. Es machte sich sehr gut. Da hab´ ich alles heruntergerissen – besser, ich tu´s, als andere! – und auch das übrige mitverbrannt.

Die Wiener Zeit

In Wien verbreitete sich der Ruhm des Wahlwieners aus Norddeutschland, wie in der Kaiserstadt damals üblich, zunächst in den bürgerlichen Salons. Vor allem die Begegnung mit dem virtuosen Pianisten Epstein wurde bedeutsam: Er lud, nachdem Brahms ihm bei seinem Antrittsbesuch vorgespielt hatte, den Komponisten nebst dem philharmonischen Hellmesberger-Quartett zum Frühstück und man spielte gemeinsam Brahms' f-Moll-Klavierquartett - vom Blatt (was beweist, über welche technische Meisterschaft Musiker jener Generation geboten! Hellmesberger bezeichnete Brahms daraufhin als den »wahren Erben Beethovens«, war später dann allerdings glühender Wagnerianer und schrieb dieses frühe Urteil über Brahm dem »kroatischen Wein« zu, den Epstein kredenzt hatte...

Das Konzertdebüt, 1862

Dem improvisierten Konzert bei Epstein folgte, wiederum quasi »hinterrücks« von Epstein organisiert, das Debüt-Konzert: Brahms und die Mitglieder des Hellmesberger-Quartetts musizierten am 29. November 1862 im Bösendorfersaal. Das A-Dur-Quartett op. 26 war das Hauptwerk. Brahms selbst spielte auch solistisch, unter anderem die Wiener Erstaufführung von Robert Schumanns C-Dur-Fantasie.

Der Erfolg war enorm. An seine Eltern konnte der Komponist über sein erstes öffentliches Wiener Auftreten berichten:

... mein Konzert ist ganz trefflich abgelaufen, viel schöner, als ich hoffte. Nachdem das Quartett recht wohlwollend aufgenommen war, habe ich als Klavierspieler außerordentlich gefallen. Jede Nummer hatte den reichsten Beifall, ich glaube, es war ordentlich Enthusiasmus im Saal.
Jetzt könnte ich freilich ganz gut Konzerte machen, aber an Lust fehlt mir's, denn es nimmt mich für die Zeit zu sehr ein, so daß ich zu nichts anderem kommen kann. ... Die hiesigen Verleger, namentlich Spina und Lewy, drängen mich seit dem Quartett um Sachen, indes gefällt mir in Norddeutschland manches besser, und sonderlich die Verleger, und fürs erste entbehre ich lieber die paar Louisdors, die diese vielleicht mehr zahlen würden.
Einige Monate später an einen Freund:
...ich gehe doch wohl wieder nach Hamburg.

Noch hält sich seine Lust, auf Dauer in Wien zu bleiben, in Grenzen. Immerhin erwartete er eine Berufung als Direktor des philharmonischen Konzertvereins seiner Heimatstadt. Doch dieser Posten ging 1863 wider erwarten an Julius Stockhausen.

Brahms und Hanslick

Der für Brahms in Wien später so wichtige Kontakt mit dem Kritiker Eduard Hanslick stellte sich alsbald ein. Zwar beurteilte der Rezensent die ersten Wiener Auftritte des Hamburgers reserviert, zog ihn aber als Pianisten für seine öffentlichen Musik-Vorlesungen heran. Bei dieser Gelegenheit spielte Brahms im Rahmen eines Beethoven-Vortrags des Professors Hanslick im Alten Wiener Rathaus Beethovens letzte Klaviersonate, op. 111, zur »Illustration«. Man kam einander näher...

Die Wiener Orchester, das unter dem Namen »Wiener Philharmoniker« relativ junge Konzertorchester, gebildet aus Mitgliedern des Wiener Hofopern-Orchesters, und das Orchester der Gesellschaft der Musikfreunde nahmen sich bald nach Brahms' Ankunft in Wien seiner beiden bis zu diesem Zeitpunkt fertiggestellten Orchesterkompositionen an, der Sernaden in D-Dur und A-Dur. Brahms war in Wien angekommen.

Brahms und Wagner

Als Wahlwiener erlebte er bereits in den ersten Monaten die viel diskutierten Konzerte die sein Antipode Richard Wagner gab. Während an der Hofoper - vergeblich, wie sich bald herausstellen sollte - für die geplante Uraufführung von Tristan und Isolde geprobt wurde, stellte Wagner konzertant Fragmente seiner noch lange nicht vollendeten Meistersinger von Nürnberg und des Rings des Nibelungen vor.

Von den späteren Animositäten war vordergründig noch nichts zu bemerken. Im Gegenteil wandte sich Brahms bewußt gegen die Gehässigkeiten, denen Wagner damals begegnete.

Als Pianist präsentierte sich Brahms damals noch gern mit virtuosem Repertoire. Seine eigenen, von den Interpreten später wegen ihrer Ansprüche gefürchteten Paganini-Variationen spielte er erstmals in einem Wiener Konzert 1867.

Chorleiter

1863 wählte die erst fünf Jahre zuvor gegründete Wiener Singakademie Brahms zu ihren Chordirektor - damit waren die Weichen gestellt. Der Komponist wurde »eingewienert«.

Am 15. November 1863 dirigierte er im Redoutensaal das erste Konzert mit »seinem« Chor, Musik von Bach und Beethoven, Schumanns Requiem für Mignon und eigene Volkslied-Bearbeitungen - mit Ausnahme des Beethoven allesamt in Wien unbekannte Werke.

Hanslick schwärmte:

Indem die Gesellschaft Brahms an das verwaiste Pult berief, hatte sie den heilsamsten Entschluß gefaßt, der in ihrem Falle sich denken läßt. Eine jugendliche Kraft, die mit ihrer unverbrauchten Frische eine seltene Ruhe und Reise verbindet, ein ebenso hochbegabter Tondichter als verständnisvoller Dirigent ist nun ihr Führer.

Das zweite Brahmskonzert der Singakademie galt im Jänner 1864 einem reinen A-Cappella-Programm - allerdings aus Not; denn für das Engagement eines Orchesters fand sich kein Mäzen!

Rehabilitierungen

Anfang der Siebzigerjahre gelang es Brahms dann, in Wiener Konzerten die Aufmerksamkeit auf seine wichtigsten bis dahin entstandenen Werke zu lenken und dauerhaft zu befestigen: Mit dem Singverein und den Philharmonikern führte er sein Deutsches Requiem auf, das 1867 bei der Uraufführung wegen mangelnder Vorbereitung durchgefallen war. Nun erfuhr es die glänzendste Rehabilitierung - und stand ab diesem Zeitpunkt in ganz Europa konsequent auf den Spielplänen. Ebenso erging es dem zuvor unpopulären, bis dahin einzigen Klavierkonzert des Meisters, dem d-Moll-Konzert, das bis dahin beinahe ausschließlich von der treuen Clara Schumann gepflegt worden war. Nun setzte sich Brahms selbst wieder an den Flügel und führte das Werk zunächst mit den Philharmonikern in Wien auf - danach auf Reisen in ganz Deutschland. Ab diesem Zeitpunkt wurden auch reisende Virtuosen wie Theodor Leschetitzky auf das Stück aufmerksam und hielten es im Repertoire. Damit stieg die Nachfrage und der Verleger konnte bald Arrangements für kammermusikalische Wiedergaben des Konzerts in privaten Salons auf den Markt bringen.

Die Deutschland-Reise

Daß es Brahms 1871 nach Deutschland zog, hatte durchaus mit seiner patriotischen Gesinnung zu tun. Der Sieg über die Franzosen von 1870 erfüllte den Komponisten mit Genugtuung. Er schloß sich durchaus dem politischen Taumel jener Ära an, wenn er an einen Freund schrieb:

... ich habe Veranlassung genommen, nach Deutschland zu gehen. Du hast recht, daß ich eben durchaus nach Deutschland mußte. Ich mußte mein Teil vom Jubel haben, es litt mich gar nicht länger in Wien ... Es lebe Bismarck!

und an einen anderen:

Ich habe noch massenhaft französisches Gesindel und prächtige deutsche Soldaten auf dem Weg nach Frankreich gesehen, und das froheste Gefühl läßt einen nicht los, wenn man durch diese schönen Länder fährt; zum ersten Mal ergrünt wieder alles, – was liegt dazwischen, was ist ihnen erspart worden!
Das »Triumphlied«

Der pariotischen Aufwallung verdankt sich eine der problematischsten Kompositionen aus der Feder von Brahms, das sogenannte Triumphlied, das aus politischen Gründen kaum je gespielt und von der Biographik schamhaft unterspielt wird - gleichwohl enthält es, wie jede Brahms'sche Partitur, exzellente Musik. Doch hat man sich entschlossen, nur Richard Wagner zum Super-Deutschen zu stilisieren und Brahms als dessen absoluten Widerpart zu betrachten - eine Einschätzung, die sich mit der Realität nicht verträgt.

Wien bestellte den Komponisten, nachdem er von seiner Tournee zurückgekehrt war, zum künstlerischen Leiter der Gesellschaft der Musikfreunde. Damit begann eine dauerhafte Beziehung, die lange nachwirken sollte: Brahms überließ dem Archiv der Gesellschaft seinen gesamten Nachlaß - der als ein beträchtlicher Teil der gewaltigen Sammlung bis heute in den Tresoren des Musikvereins ruht.

Streichquartette

Frucht der ersten Wiener Jahre sind die ersten beiden der drei Streichquartette aus Brahms' Feder. Wobei die Nomenklatur durchaus falsch ist, worauf auch Brahms' Brief an den Widmungsträger der Quartette in c-Moll und a-Moll, op. 51, Theodor Billroth, verweist: Der Komponist hatte an die zwanzig Werke für die klassische Quartett-Besetzung komponiert und wieder verworfen; wie immer beim gründlichen Vernichter seiner netwürfe findet sich nicht die kleinste Spur jener Kompositionen im Nachlaß. An Billroth schrieb er:

Ich bin im Begriff, nicht die ersten, aber zum ersten Male Streich-Quartette herauszugeben.

Es ist nun nicht bloß der herzliche Gedanke an Dich und Deine Freundschaft, der mich dem ersten Deinen Namen vorsetzen läßt; ich denke Dich einmal so gern und mit so besonderem Plaisier als Geiger und ›Sextettspieler‹. Ein Heft riesig schwerer Klavier-Variationen würdest Du gewiß freundlicher annehmen und Deinem Verdienst gerecht finden? Das hilft nun nichts, Du mußt Dir die Widmung auch mit dem kleinen lustigen Hintergedanken gefallen lassen.

Ich hätte nun auch nicht dafür die Adressen zweier Briefe beansprucht, aber Du hast so viele Titel, daß ich nicht weiß – welche ich weglassen soll? Wer keinen zu tragen gewohnt ist, geht vorsichtiger mit dem Zeug um. – Magst Du mir wohl diese nötige Modulation angeben!

Billroth, der angesehene Wiener Chirurg, in dessen Salon die Werke vor ihren offiziellen Uraufführungen vom Hellmesberger-Quartett 1873 probiert wurden, schnitt aus dem Titelblatt der Quartett-Partitur die Widmungszeile heraus und hängte sie gerahmt an seine Wohnzimmerwand - ein barbarischer Akt, den ihm Brahms lange nicht verzieh.

Aus der Widmung geht jedenfalls hervor, daß es vor den beiden 1873 publizierten Quartetten andere Werke dieser Gattung aus Brahms' Feder gegeben hat. Eine Privataufführung eines Quartetts in c-Moll im Beisein Clara Schumanns ist bereits für Ende der Sechzigerjahre verbürgt. Ob es sich dabei um eine Vorform des Werks in der gleichen Tonart aus dem Opus 51 gehandelt hat, bleibt aber ungeklärt. Von dem früheren Manuskript findet sich keine Spur mehr.

Den Quartett-Zwillingen gesellt Brahms 1875 noch ein B-Dur-Streichquartett hinzu, das er auf der Sommerfrische in der Nähe von Heidelberg entwirft und im Herbst in Wien vollendet und damit sein Quartett-Schaffen abschließt.

Der Symphoniker

Zur selben Zeit beendet Brahms seine Haydn-Variationen in der Fassung für zwei Klaviere, die bald zu seinem ersten großen Orchesterwerk werden - und die Ära des Symphonikers Brahms einbegleiten. An seiner c-Moll-Symphonie hatte Brahms über Jahre hin gefeilt. Scon 1862 präsentierte er Freund Joachim und Clara Schumann eine Version des Kopfsatzes, dem noch die langsame Einleitung ehlte. Aber erst 1876 war die Partitur fertiggestellt - der zweite Satz wurde sogar noch nach der Uraufführung umgearbeitet und erhielt durch Umstellung einiger Teile seine endgültige Gestalt.

Der Einstand war keineswegs erfolgreiche. Bei den ersten Aufführungen gefiel die Symphonie nicht, in München wurde sogar eine von Hermann Levi akribisch einstudierte Wiedergabe zum Mißerfolg.

In Wien erklang die Erste erstmals im Dezember 1876 in einem der Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde unter Brahms' Leitung; eingebettet übrigens in eine Kammermusik-Offensive Hellmesbergers, der zur selben Zeit hintereinander das (für Wien neue) H-Dur-Trio, die Erstaufführung des B-Dur-Sreichquartetts und das längst beliebte g-Moll-Klavierquartett aufs Programm setzte.

Die Persönlichkeit

Den notorischen Einzelgänger Brahms muß man sich als einen Mann denken, der ganze Tage in den Praterauen verbringt. Er liebte es, in der Früh hinauszufahren und in der Krieau zu frünstücken. Dann wanderte er durch den Prater, speiste in einem der großen Wirtshäuser zu Mittag - im »Eisvogel«, beim »Braunen Hirschen« oder im »Schweizerhaus«, das es bis heute gibt.

Die Prater-Kinder kannten ihn und liebten ihn, denn seine Taschen waren stets gut gefüllt mit Süßigkeiten - und kleinen Geldmünzen, die er willig verteilte.

Bei seinen Streifzügen am Nachmittag kehrte er dann gern in der »Csárda« ein, wo die Zigeunerkapellen aufspielten, denen er die Melodien zu seinen »ungarischen Tänzen« ablauschte. Brahms soll bis spät in die Nacht dem Wein zugesprochen haben.

Der »Liederfrühling« 1877

Auf den Spaziergängen im Prater kamen Brahms nach den Mühen, die ihn die Vollendung der Ersten Symphonie gekostet hatte, nun ganz zwanglos und sponan die rechten Eingebungen für kleiner dimensionierte Werke: Im Frühjahr 1877 entstand, bezeichnenderweise mit einem »Lerchengesang« (Candidus) beginnend, eine ganze Reihe von Liedern, die in den Sammlungen op. 69 - 72 herausgegeben wurden.

Pörtschacher Idylle

Der »Liederfrühling« war der rechte Auftakt für zwei große D-Dur-Werke von über weite Strecken lyrischem Zuschnit, mit denen Brahms in der Sommerfrische von Pörtschach am Wörthersee in Kärnten das große symphonische Repertoire bereicherte: 1877 entstand die Zweite Symphonie, anders als die Erste in einem großen Atemzug. Im Jahr darauf das Violinkonzert.

Die guten Beziehungen zur Wiener »guten Gesellschaft« nutzte Brahms auch während der Sommerfrische. Er fand Pörtschach

... allerliebst, und ich fand eine niedliche und, wie es scheint, angenehme Wohnung im Schloß! Das kannst du im allgemeinen einfach so erzählen, das imponiert. Nebenbei aber sage ich, daß ich eben zwei kleine Zimmer der Hausmeisterswohnung habe, mein Flügel würde die Treppe nicht herausgehen, auch wohl die Wand sprengen. Zum Glück hat Dr. Kupelwieser aus Wien hier eine Villa und einen Stutzflügel. Den haben wir sofort ins Zimmer gestellt, und mein Flügel kommt nun in die Villa...

Die Pörtschacher Sommer - ein dritter folgte 1879 - bildeten die fruchtbarste Zeit des Komponisten Brahms. neben den genannten, groß dimensionierten Werken entstanden noch die G-Dur-Violinsonate, etliche kleinere Klavierstücke, ein Heft mit »ungarischen Tänzen« oder - als Zeugnis der intensiven Beschäftigung mit Bach - die beiden Motetten op. 74.

Die Uraufführung der Violinsonate durch Joachim und Brahms im November 1879 in Wien rundete diese Episode in Brahms' Leben ab.

mehr über die → Symphonien 1-4.

Sommerfrische in Ischl

Ab den frühen Achtzigerjahren verbrachte Brahms seine Sommer des öfteren in Bad Ischl, wo die Wiener Gesellschaft gern weilte, weil der Kaiserhof dort traditionsgemäß die schöne Jahreszeit in Ischl weilte. Für Brahms war das kein Grund, diese Gegend zu wählen, doch die Spaziergänge, die dort möglich waren, inspirierten ihn - erstmals im Sommer 1880. Biograph Kalbeck schildert eine Begegnung mit dem schöpferisch aktiven Wandersmann:

Frühaufsteher und Naturfreund wie er, war ich an einem warmen Julimorgen sehr zeitig ins Freie hinausgegangen. Da sah ich plötzlich vom Walde her einen Mann über die Wiese auf mich zugelaufen kommen, den ich für einen Bauer hielt. Ich fürchtete, verbotene Wege betreten zu haben, und rechnete schon mit allerlei unangenehmen Eventualitäten, als ich in dem vermeintlichen Bauer zu meiner Freude Brahms erkannte. Aber in welchem Zustande befand er sich, und wie sah er aus! Barhäuptig und in Hemdärmeln, ohne Weste und Halskragen, schwenkte er den Hut in der einen Hand, schleppte mit der andern den ausgezogenen Rock im Grase nach und rannte so schnell vorwärts, als würde er von einem unsichtbaren Verfolger gejagt. Schon von weitem hörte ich ihn schnaufen und ächzen. Beim Näherkommen sah ich, wie ihm von den Haaren, die ihm ins Gesicht hingen, der Schweiß stromweise über die erhitzten Wangen herunterfloß. Seine Augen starrten geradeaus ins Leere und leuchteten wie die eines Raubtieres, – er machte den Eindruck eines Besessenen.

Kalbeck konnte in Ischl auch hören, wie die Fantasien, die Brahms sich bei diesen Gelegenheiten ausdachte, in der Realität klangen:

... ebenso unvergeßlich bleibt mir die einzige Stunde, in der ich als heimlicher Ohrenzeuge seinen Eingebungen lauschen durfte, die er, aller Wahrscheinlichkeit nach vor der ersten Niederschrift, seinen verschwiegenen Wänden anvertraute. Auch da berührte sich das Dämonische mit dem Künstlerischen in eigentümlicher Weise. Bei einem Vormittagsbesuche in der Salzburgerstraße über die bewußte Außentreppe in den Garten hinaufgestiegen, wollte ich eben durch die weit geöffnete Hintertür eintreten, als ich sah, daß auch die Tür des Musikzimmers offen stand. Zugleich ertönte ein bezauberndes Klavierspiel, das mich auf der Schwelle festgebannt hielt. Es klang wie freies Phantasieren, aber an den öfter sich verändernden Wiederholungen gewisser Stellen erkannte ich, daß Brahms die bereits fertige Kopfarbeit einer neuen Komposition durchnahm, um sie zu verbessern und auszufeilen.



Die Bevölkerung in Bad Ischl war sich bald bewußt, in Brahms einen berühmten Gast zu beherbergen. Die Kellner im Café auf der Esplanade an der Traun brachten, was der prominente Einkehrer wünschte, ohne daß er bestellen mußte - und die Zeitungen und Journale dazu.

Die eminente Selbstkritik verließ Brahms auch in jenen Jahren des Ruhms nicht. Während des ersten Bad Ischler Sommers arbeitete er an zwei Klaviertrios. Eines in Es-Dur, eines in C-Dur. Lediglich das Werk in C-Dur ist - zwei Jahre später vollendet - als Opus 87 überliefert. Vom Es-Dur-Werk, dessen erster Satz bei Durchspielproben die Gegenliebe Clara Schumanns geweckt hatte und über den sich auch Theodor Billroth begeistert äußerte, fehlt jede Spur. Es hat die Selbstzensur des Komponisten nicht überlebt und wurde wie so viele halb oder ganz vollendete Stücke dem Feuer übergeben.

Die Ouvertüren

Parallel entstanden im ersten Ischler Sommer zwei völlig konträre Konzert-Ouvertüren: die Akademische Festouvertüre und die Tragische Ouvertüre. Die erste als Dankesgabe für die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Breslau, die andere möglicherweise als Frucht einer Auseinandersetzung mit dem »Faust«, dem ein theatralisches Projekt des Wiener Burgtheaters gewidmet sein sollte, zu dem Brahms Musik beisteuern hätte können, das sich aber zerschlug.

Die Dritte Symphonie

Eine Reise an den Rhein nach seinem 50. Geburtstag, der in Wien groß gefeiert worden war, ließ in Brahms den Entschluß reifen, den Sommer 1883 nicht, wie geplant, wieder in Bad Ischl zu verbringen, sondern in Wiesbaden, wo er den Schlußstrich hinter die Partitur seiner Dritten Symphonie ziehen konnte.

Die Kunde davon verbreitete sich rasch - in Wien wurde der Komponist sehnsüchtig zurückerwartet (im Oktober 1883 traf er wieder ein), denn die Philharmoniker wollten sich das Recht zur Uraufführung der Novität sichern. Sie hatten schon die Zweite Symphonie im neuen Musikereinssaal aus der Taufe gehoben.

Die Uraufführung im Dezember 1883 wurde zu einem der größten Triumphe im Leben des Komponisten, obwohl eine starke Fraktion der Wagner- und Bruckneranhänger nach jedem Satz kräftig zischte. Aber selbst eingefleischte Brahms-Verehrer staunten über den Pianissimo-Schluß dieser Symphonie - und suchten nach programmatischen Bildern, ihn zu erklären; Joseph Joachim meinte, die Geschichte von »Hero und Leander« zu vernehmen...

Im Repertoire ist das F-Dur-Werk die am wenigsten gut verankerte der vier Brahms-Symphonien.

Bülows Freundschaft

Wichtig für Brahms wurde der Einsatz des großen Panisten und Dirigenten Hans von Bülow, der mit seiner fabelhaften Meininger Hofkapelle auf Reisen ging und neben viel Beethoven auch Brahms im Gepäck mit sich führte. Viel beachtet wurden die Konzerte in Wien im Winter 1884/85, bei denen unter anderem die Dritte Symphonie zur Aufführung kam, aber auch beide Klavierkonzerte, wobei Bülow den Solo-Part des d-Moll-Konzerts selbst spielte und die Aufführung des neuen B-Dur-Konzerts - mit Brahms am Klavier - dirigierte.

Bülow selbst sah sich durchaus als Konkurrent Hermann Levis und schrieb sich die Durchstzung des Brahms'schen Schaffens mehrheitlich selbst zugute. An seine Frau schreibt er nach den Wiener Konzerten aus Preßburg:

Gestern in Wien wars noch sehr nett. Brahms ungeheuer liebenswürdig – die Wiener Musiker behaupten alle, ich habe seinen ganzen Charakter umgewandelt – seitdem ich seine Partei ergriffen, sei er um 66 2/3 Prozent humaner geworden. Glauben wir's...

Doch war es an einem der Abende zu einem Eklat gekommen, weil Bülow im Gefolge einer abschätzigen Kritik Ludwig Speidels im Fremdenblatt über seine Beethoven-Interpretationen kurzfristig die Egmont-Ouvertüre durch Brahms neue Akademische Festouvertüre ersetzte, woraufhin das Publikum lautstark nach Beethoven! verlangte - und Büow zynisch entgegnete, die Wiener hätten vermutlich zu Beethovens Zeiten ebeso geharnischt nach einer Ouvertüre des Singspielkomponisten Weigel verlangt....

Bach-Aufführungen, privat

Im privaten Kreis kam es zu erstaunlichen Ereignissen. Als Bülow meinte, es sei kaum möglich, die Präludien und Fagen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier im Kopf zu behalten, erklärte sich Brahms bereit, auf Zuruf einer Tonart das jeweilige Präludium und die Fuge auswendig vorzutragen - und reüssierte bei wiederholten Versuchen glänzend.

Seinen Bach kannte Brahms tatsächlich in- und auswendig. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich in seiner letzten, der Vierten Symphonie, die Bülow 1885 in Meiningen aus der Taufe heben durfte, im Finale ein Bach-Choral als Grundlage der Passacaglia-Variationen findet. Das Werk war mehrheitlich in der Sommerfrische im steirischen Mürzzuschlag entstanden.

Die Kirschen werden hier nicht süß,

entschuldigte der Komponist den herben Tonfall seiner letzten Symphonie mit den Witterungsverhältnissen am Fuße des Semmerings.

Der 21-jährige Richard Strauss war damals zum Assistenten Bülows in Meiningen avanciert und hatte Brahms seine jugendliche Symphonie in f-Moll vorgelegt. Das knappe Urteil ist legendär: »ganz hübsch« soll Brahms gesagt haben, dem jungen Kollegen aber auch noch den Ratschlag auf den Weg mitgegeben haben:

Junger Mann, sehen Sie sich genau die Schubertschen Tänze an und versuchen Sie sich in der Erfindung einfacher und achttaktiger Melodien.
Für Strauss waren das goldene Worte, die er sich zu Herzen nahm - ebenso wie den Ratschlag bezüglich des kontrapunktischen Denkens, an den er sich lebenslang erinnerte:
Ihre Symphonie enthält zuviel thematische Spielereien. Dieses Übereinanderschachteln vieler, nur rhythmisch kontrastierender Themen auf einem Dreiklang hat gar keinen Wert‹, ist mir deutlich haften geblieben. Damals habe ich eingesehen, daß Kontrapunkt nur berechtigt ist, wenn eine poetische Notwendigkeit zwei oder mehrere, nicht nur rhythmisch, sondern gerade harmonisch aufs stärkste kontrastierende Themen zu vorübergehender Vereinigung zwingt.

R. Strauss



Sommer in der Schweiz

Ab Mitte der Achtzigerjahre zog es Brahms während der schaffensintensiven Sommermonate immer wieder in die Schweiz. Das Berner Oberland ersetzte die österreichischen Sommerfrische-Orte - denn sein Gastland war dem nunmehr patriotisch aufmunitionierten Deutschen politisch allzu sehr nach Osten ausgerichtet. Nicht von ungefähr kommt die Einschätzung des ersten bedeutenden Brahms-Biographen Kalbeck, der Komponist sei im Gefolge des deutschen Sieges über die Franzosen von den »öffentlichen Zuständen in Österreich« geradezu »angewidert« gewesen. Wenn Brahms in die Schweiz ging, dann sah er sich, so Kalbeck

in der Liebhaberrolle des »politischen Flüchtlings«, d.h. eines in seinen Gefühlen gedrückten liberalen deutschen Mannes, der dem Ministerium Taaffe und seiner tschechisch-polnisch-klerikalen Majorität zeitweilig den Rücken drehte...


In Hause des Tischlermeisters Sprung in Thun am See entsteht - jeweils nach ausgedehnten Wanderungen am frühesten Morgen - die letzte Werkgruppe, die wir regelmäßigen Sommer-Aufenthalten des Komponisten verdanken. Abgesehen vom letzten großen Orchesterwerk, dem Doppelkonzert op. 102 ist es eine Kammermusik- und Liederreihe von außerordentlichem Rang, die A-Dur- und d-Moll-Violinsonate, die Zigeunerlieder op 103 und die Lieder-Hefte op. 105, 106 und 107.

Letzte Blüte

Jenes Werk, mit dem Brahms sein Schaffen abzuschließen gedachte, entstand beim sommerlichen Aufenthalt in Bad Ischl, 1888: Das Streichquintett in G-Dur, dessen hoch aufschwingendes Cello-Thema ursprünglich für den Beginn der Fünften Symphonie gedacht gewesen war, ist von erstaunlich positivem, oft geradezu heiterm Zuschnitt. Daß es nicht das allerletzte Werk wurde, verdanken wir der Begegnung des Komponisten mit dem Klarinettisten der Meininger Hofkapelle, Richard Mühlfeld, dessen Spiel Brahms so gefiel, daß er ihm noch zwei Klarinettensonaten, das Klarinettentrio op. 114 und das Klarinettenquintett op. 115 widmete, Früchte der allerletzten Schaffensjahre, die letzttendlich in die Vier ernsten Gesänge und die Orgel-Präludien mündeten.

Brahms starb 1897 an Leberkrebs - den er selbst in seiner jovialen Art als kleinbürgerliche Gelbsucht abtat. Wenige Monate vor seinem Tod hatte ihn der junge Wiener Musikkritiker Max Graf beobachten können, wie er sich während der Einsegnung seines von der Kritik zu seinem Todfeind stilisierten Anton Bruckner in der Karlskirche hinter einer Säule versteckte - die Tränen sollen ihm über die schon von der Todeskrankheit gezeichneten Wangen gelaufen sein...


Die Symphonien

Das d-Moll-Klavierkonzert

Das B-Dur-Klavierkonzert


Die Serenaden



Klavierquartett op. 25 - orchestriert von A. Schönberg



↑DA CAPO