Bizet: CARMEN

Uraufführung: 3. März 1875, Opéra-Comique (Paris)

Hurrah! Freund! Wieder etwas Gutes kennengelernt,
eine Oper von Georges Bizet (wer ist das?!): Carmen. Hörte sich an wie eine Novelle Mérimées, geistreich, stark, hier und da erschütternd.
Also schrieb 1881 Friedrich Nietzsche an den Komponisten Peter Gast.

Mehr als einmal spielte der Philosoph später Bizets Musik gegen die Richard Wagners aus, nachdem er sich vom Bayreuther Titan gelöst hatte.

Damit spiegelt sich in Nietzsches Reaktion das Drama um die Rezeptionsgeschichte der Carmen sinnbildlich wider.

Tatsächlich hat Bizets Werk gar nichts mit Wagner zu tun, sondern schreibt auf geniale Weise die Geschichte der französischen Opéra comique fort.

Perfekt ist freilich Nietzsches Schilderung der Wirkung des Werks: »geistreich, stark, hier und da erschütternd« - und dank dieser Mixtur ein Welterfolg -- wenn auch nicht sofort.

Auf die Uraufführung reagierten Publikum und Kritik verhalten. Eine Opéra comique, die auf einen tragischen Schluß zusteuerte und im sinistren Milieu spielte, konnte durchaus als sozialkritischen Zeit-Bespiegelung gewertete werden. Eine Generation, die sich an Offenbachiaden und ihre buffoneske Zeitkritik gewöhnt hatte, schien die Wendung ins Naturalistische ein allzu aggressiver moralischer Befund.
Zunächst zumindest.
Den Siegeszug seiner Carmen hat Bizet nicht mehr erlebt. Schon im Jahr 1905 verzeichnete die Pariser Opéra-Comique die 1000. Aufführung. Damit das Stück auch in der Grand Opéra gespielt werden konnte, versah man sie mit Rezitativen, die alle gesprochenen Dialoge ersetzten.

Dieserart zur »großen Oper« stilisiert, machte Carmen auch ihren Weg auf die Bühnen jenseits von Frankreich -- und war dort nicht minder erfolgreich.

»Carmen« auf Deutsch

Manches Zitat aus der nicht gerade brillanten deutschsprachigen Übersetzung Julius Hopps wurde zum geflügelten Wort: »ja die Liebe hat bunte Flügel« wußte in deutschsprachigen Landen bald jedes Kind...

Produktionen im ausgehenden XX. Jahrhundert versuchten die ursprüngliche Gestalt von Bizets Komposition wieder herzustellen. Weltweit wird das Stück mittlerweile kaum noch in Übersetzungen gegeben, sondern in der Originalsprache und mit gesprochenen Dialogen.

Die Figuren der Vorlage

Nietzsches Assoziation mit Mérimée war im übrigen goldrichtig. Tatsächlich basiert die Oper auf einer der wenigen, messerscharf ausformulierten Novellen dieses Dichters (1803 - 1870). Nur haben die Librettisten Ludovic Halévy und Henri Meilhac, den Gesetzen der Oper gehorchend, die in Prosa psychologisch feinsinnig entwickelte Geschichte des Verfalls in simpel zu dechiffrierende Bühnensituationen umgewandelt. Weshalb auch einige in der Novelle nur am Rande erwähnte Figuren plötzlich leibhaftig erscheinen und ihre Rollen spielen.
Escamillo, der Gegenspieler Josés, heißt bei Mérimée Lucas und ist nicht einmal Torero, sondern Picador - und im Text eine Randfigur.
Micaela gibt es bei Mérimée überhaupt nicht. Das Mädchen haben die Librettisten aus einer Nebenbemerkung in der Novelle »konstruiert«: Mérimées Don José Lizzarabengoa, übrigens alles andere als ein braver Soldat, eher ein hartgesottener Ganove, meint in der Novelle einmal nebenbei, er könne sich hübsche Mädchen nicht anders vorstellen als die in seiner baskischen Heimat, nämlich »mit blauen Röcken und langen blonden Zöpfen«.

Die Spannungsverhältnisse zwischen den vier Hauptfiguren, wie sie im Libretto konstruiert wird, ihre Leidenschaften und unerfüllten Sehnsüchte setzen die Opernhandlung in Gang, ganz nach klassischem Muster - aber in glücklicher Farbigkeit und Vielschichtigkeit, der die Musik Bizets entsprechend vielgestaltige Klangkulissen verschafft.
Bis ins XXI. Jahrhundert blieb Carmen eine der zehn meistgespielten Opern auf den internationalen Spielplänen.

Ein Hörfeuilleton zum Thema »Stil« und Aufführungstradition.

DA CAPO