Stilfragen
Im Falle von Bizets Carmen stellt sich die berühmte Frage nach dem rechten Stil gleich mehrfach: Das Werk ist eine veritable »Opéra-Comique« und wurde - das ist die erste Verfremdung - für Aufführungen in »großen« Opernhäusern den Anforderungen der »Grand Opéra« angepaßt. Ernest Guiraud, ein Freund des Komponisten, schrieb an Stelle der im großen Opernhaus verpönten Singspiel-Dialoge Rezitative, die in der Folge so gut wie in aller Welt verwendet wurden. So kam Carmen bereits in einer entstellten Fassung auf die internationalen Bühnen. Wobei der unaufhaltsame Aufstieg der Oper an der Wiener Hofoper begann, wenige Monate nach der indifferent aufgenommenen Pariser Uraufführung. Bizet hat es nicht mehr erlebt.Verismo statt Opéra-Comique
Verfremdung Nummer 2 schuf eine Aufführungstradition, die das Werk bald jeglicher Restbestände gallischer Leichtigkeit entkleidete und die große Tragödie betonte - immer langsamer wurden die Tempi, gewichtiger die Artikulation. Und entsprechend schwerer und gehaltvoller wurden die Stimmen, die man für die Besetzung der Hauptpartien heranzog; die Singweise wurde bald weniger flexibel, näherte sich mehr und mehr dem italienischen Verismo.Die Notenausgaben der Originalversion (vor allem die über viele Jahre benutzte Edition Fritz Oeser) ließ viele Schlampereien und Verballhornungen von Bizets Text stehen. Das schlug sich selbstredend auch in der Aufnahmegeschichte des Werks nieder. Eine Carmen, die stilistisch dem Stück gleichen könnte, wie es anläßlich der Uraufführung kurz vor Bizets Tod, 1875, geklungen haben könnte, dürfte in unserem Äon kaum realisiert worden sein - wenn es auch immer wieder mehr oder weniger radikale Versuche in die Richtung gegeben hat; es bleibt auch die Frage, wie weit sich das Publikum, das Carmen in ganz anderem Gewand kennen und lieben gelernt hat, eine solche Sichtweise wirklich goutieren würde. Es war schließlich die »verfremdete« Carmen, die man liebgewonnen hat.
Aufnahmen
Dank hochgerühmter Interpretinnen der Titelpartie hat man sich an eine Art singende »Raubkatze« gewöhnt, die ihr Image mit Habanera, Seguidilla und Chanson Bohème auch optisch filmreif inszenieren darf und den entsprechenden »Soundtrack« dazu liefert. Bei Bizet kommt zwar erst mit den todessüchtigen Klängen der Kartenszene im dritten Akt eine andere, ernsthafte, tiefgründige Carmen ins Spiel - eine, die sich uns offenbart, weil sie sich unbeobachtet weiß.
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Fehlende Leichtigkeit
Die dürfte bei einer Carmen, die sich Bizets - von Nietzsche dank ihrer sonnigen Leichtigkeit so bewunderter - Musik als vollständig würdig erweisen will, eigentlich nicht fehlen.Man hört sie am ehesten bei der wendigen Victoria de los Angeles in der Gesamtaufnahme unter der Leitung von Sir Thomas Beecham, der die nämliche Agilität in den Orchesterklang zu bringen versteht.
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Pianissimo oder Fortissimo?
Kapellmeisterisch ähnlich beredt agiert Georges Prêtre in der Callas-Aufnahme: Die beiden Dirigenten setzten auf den selben Tenor für den Don José, Nicolai Gedda, der fern jeglichen falschen Verismo-Gehabes vokal schlank und beweglich agiert, aber in der Blumenarie das hohe B keineswegs vorschriftsmäßig im Pianissimo singt.Diesbezüglich scheiden sich im Publikum immer die Geister: Selbst der große Caruso - um den berühmtesten Vorkriegs-Namen zu nennen, von dem wir noch zumindest Carmen-Fragmente auf Schallplatte besitzen - sang die Passage ungeniert im Fortissimo.
Das reflektiert die Hochdruck-Dramaturgie der Aufführungsgeschichte. Daß diese ihre Meriten hat, wird niemand bestreiten, der entsprechende mitreißende Aufführungen erlebt hat; oder der den Mailänder Livemitschnitt unter Hebert von Karajans Leitung kennt,
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Tenöre der jüngeren Generation versuchen sich stilbewußt an diesem Kunststück, Jonas Kaufmann hat es probiert, Piotr Beczala auch - bei ihm ist der Ton wirklich berückend subtil in die Phrase eingebunden. (»The French Collection« - DG)
Kleibers Alleingang
Letztendlich beweisen unzählige Aufführung des Werks, daß sich das Publikum letztlich um derartige Fragen nicht schert, solange die jeweiligen Interpreten subjektiv überzeugende Leistungen bieten und eine packende Geschichte erzählen. Manchmal genügen sogar die geradezu hypnotischen Kräfte eines genialischen Dirigenten, um ein Auditorium in Raserei zu versetzen, obwohl bei Licht betrachtet keine einzige der Hauptrollen adäquat besetzt ist.
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Der Geist der »Opéra-Comique«
Nur wer auf die Suche nach einer wirklich perfekten Gesamtaufnahme auf CD geht, wird enttäuscht heimkehren. Selbst die Einspielungen unter Prêtre und Beecham taugen mangels durchgehend überzeugender Besetzungen nicht als durchwegs spannendes Hörspiel. Ein solches bieten, apropos Stilsicherheit, über weite Strecken die hierzulande unbekannt gebliebene Solange Michel und Dirigent André Cluytens mit den Kräften der Pariser Opéra-Comique (Naxos). In dieser um 1950 entstandenen Aufnahme herrscht der idiomatisch ideale, leichte, aber nicht leichtgewichtige