Der Rosenkavalier
Hofmannsthals wienerische Fragilität und Strauss' bajuwarischer Theatergeist
Die Presse, 27. November 2010
Sonderzüge. Aus allen Teilen Deutschlands fuhren Sonderzüge nach Dresden!
Nein, nicht für ein Fußballmatch. Für eine Opernaufführung.
Dergleichen hat es tatsächlich gegeben. Anno 1911 wollten einfach alle den "Rosenkavalier" sehen.
Nichts kann die auch für damalige Verhältnisse unfassbare Popularität der Musiktheater-Novität besser umschreiben als dieses eisenbahnspezifische Kuriosum.
"Der Rosenkavalier", das war in jeder Hinsicht ein Kulturphänomen. Die letzte deutschsprachige Oper, die es zu echter Breitenwirkung gebracht hat, weltweit eines der meistgespielten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts.
1910 hat Strauss den Schlussstrich unter seine erfolgreichste Partitur gesetzt.
Ein berühmter Mann war er längst.
Die Aufführungszahlen seiner beiden vorangegangenen Tragödien, "Salome" und "Elektra", hatten ihm bereits ein großes Anwesen in Garmisch-Partenkirchen samt dazu passender Luxusvilla beschert.
Das neue Stück aber stellte alles in den Schatten, was in jenen Jahren ein Komponist erhoffen durfte, der sich nicht dem Unterhaltungsgenre verschreiben wollte.
Grenzen der Tonalität gesprengt
Das rief die Neider auf den Plan.
Bis heute gilt Strauss den Vordenkern der sogenannten "Neuen Musik" als suspekt. War er doch mit den genannten tragischen Einaktern Aushängeschild der musikalischen Moderne nach 1900.
In der Szene der Klytämnestra im Zentrum der "Elektra" hatte er die Grenzen der Tonalität gesprengt wie zeitgleich Arnold Schönberg.
Aber während der Vater der "Neuen Wiener Schule" jenen neu erschlossenen Pfad konsequent weiter zu beschreiten trachtete und die Grundlagen der musikalischen Avantgarde für Jahrzehnte schuf, machte Richard Strauss kehrt.
Die hinreißend bodenständige Erklärung des Sprosses der bayerischen Bierbrauerdynastie Pschorr für die aggressive Harmonik der Atriden-Tragödie bringt die Sache auf den Punkt:
Jo mei, wenn auf der Bühne a Muatter derschlogen wird, kann i im Orchestergraben koa Violinkonzert spielen lassen.
Im "Rosenkavalier", jenem artifiziellen Pseudo-Rokoko des wienerisch-dekadenten Dramatikers Hofmannsthal, hängt der Himmel wieder voller Geigen.
Da werden auch keine Mütter ermordet, sondern lediglich Herzen und Ehen gebrochen in bester Singspielmanier.
Und Strauss komponiert dazu - synkretistisch wie sein Librettist und übrigens dessen musikalischer Anregung folgend - keine passenden Menuette, sondern Wiener Walzer, die letzten ihrer Art, die zu Wunschkonzert-Nummern werden.
Der "Rosenkavalier", der zwischen seiner Dreivierteltakt-Seligkeit manch spröde Takte verbirgt, mutiert bald auch zum Filmsujet.
Die "Marke" wird nach allen Regeln der aufblühenden modernen PR-Kunst vermarktet - nie wieder sollte das mit einer Oper gelingen. Nur von Kreneks "Jonny spielt auf" blieb aus dem ersten Reklame-Furor ein Zigaretten-Label.
Das Faszinosum "Rosenkavalier" taugt also wunderbar zur retrospektiven Anschauung. Die Wiener Nationalbibliothek hat zum 100-Jahar-Jubiläum der Oer eine schöne Ausstellung im Prunksaal seines Mutterhauses gezeigt. Die Originalpartitur der Oper liegt ja in deren Archiv. Strauss gab sie nebst dem Manuskript seiner weit weniger populären, ebenfalls von Hofmannsthal gedichteten "Ägyptischen Helena" als Pfand für die Überlassung der herrschaftlichen Villa in der Jacquingasse, die er bewohnte, solange er die Wiener Staatsoper leitete.
Tonarten früh präzise festgelegt
Das Manuskript war das Prunktstück der Schau, die auch Wissenswertes über die Entstehung des Stücks vermittelte. So staunte der Musikfreund angesichts der präzisen Eintragungen, die der Komponist bereits in Hofmannsthals handschriftlichem Entwurf des Textes anbrachte: Auf kleinstem Raum legt Strauss bereits die Tonarten fest, in denen seine Musik stehen würde.
Wer's nachkontrolliert, merkt, wie stark die erste Inspiration offenbar harmonisch und tonal bedingt war: Tatsächlich moduliert die Endfassung so heftig, wie die ersten Skizzen das suggerieren.
Dann wären da noch Alfred Rollers Bühnenbildentwürfe und Figurinen, die, so scheint's, ein für allemal festgelegt haben, wie dieses Stück auszusehen hat. (Bei den Salzburger Festspielen hielt man sich bis weit in die Fünfzigerjahre daran!)
Stünden dem nicht einschlägige Erfahrungen in den Opernhäusern am Ende des XX. und am Beginn des XXI. Jahrhunderts entgegen, man dürfte behaupten: Die Optik der Dresdner Uraufführung sei bis heute sakrosankt wie die vertraglich minuziös fixierten Inszenierungsdetails eines Andrew-Lloyd-Webber-Musicals.
Man darf im Übrigen sicher sein: Hätten Strauss und Hofmannsthal geahnt, was kommen würde, sie hätten es Webbers "Really Useful Group" gleichgetan und die Bühnenerscheinung ihres Erfolgsstücks so hieb- und stichfest fixiert wie Text und Musik.