Der Rosenkavalier

Eine Inszenierung als Kritik an Hofmannsthals Pseudo-Rokoko

Salzburger Festspiele 2004

Die Vorauspropaganda war enorm: Ein Rosenkavalier im Bordell, ja was treiben denn die Salzburger?

Verträgt unsere Zeit - gerade in Bühnendingen - eine zartfühlende, poetische Zeichensprache wie sie angeblich für den "Rosenkavalier" so charakteristisch ist? Wer würde beispielsweise bemerken, wenn Darsteller Gebote der Höflichkeit in einer Theateraufführung verletzen? Jede Schnitzler-Aufführung kündet heute von diesem Malheur, zu schweigen von den Operetten-Darbietungen, bei denen man um ironische Brechung schon deshalb nicht mehr herumkommt, weil kaum ein Sänger mehr imstande ist, einen Frack zu tragen, und keine Diva einen wirklich großen Auftritt in Abendrobe ohne Peinlichkeit absolviert.

Das Nämliche gilt paraphrasiert auch für einen Moment wie die Erscheinung der Marschallin im dritten Akt des "Rosenkavaliers". Was naturgemäß keine Entschuldigung dafür ist, dass ein Regisseur diese Oper nicht eins zu eins inszeniert, wie sie im Büchel steht. Aber als Erklärung kann es dienen. Wenn Theaterleute versuchen, in jenem Trümmerhaufen, den unsere Zivilisation aus Restbeständen einer längst hingesunkenen Kultur gebildet hat, Liebes- und Lebensweisheiten aufzuspüren, dann sind sie im übrigen gar nicht so weit von der Wirklichkeit der Theaterarbeit von Hofmannsthal und Strauss entfernt.

Hofmannsthals Pseudo-Rokoko ist durch die Brille des Fin de siecle gesehen, und - etwa durch die Erfindung von Ritualen wie der Rosenüberreichung, die es nie gegeben hat - ironisch gebrochen. Strauss hat mit seiner Musik noch nachgedoppelt. Er setzt zur Charakterisierung der Geschehnisse, historisch unpassend, den Walzer ein und lässt sein Orchester mächtig aufrauschen.

Das angeblich filigrane Rokoko-Gespinst namens "Rosenkavalier" ist also ein Kunstprodukt hie und da derb-komödiantischen Charakters. Nur eine Instanz hat ihm anno 1911 jene von Baron Ochs besungene "Etikette und spanische Tuerei" abverlangt: die Zensur. Manche "Rosenkavalier"-Tradition geht mehr auf deren Betreiben zurück als auf die Absicht der Autoren. Etwa die noch von Karajan übernommene Vermeidung der einleitenden Bettszene zwischen Octavian und der Marschallin.

Robert Carsens Salzburger Inszenierung markiert den Gegenpol. Die Handlung ereignet sich in einer Zimmerflucht der Hofburg, im gigantischen, von einem Schlachtengemälde beherrschten Speisezimmer und zuletzt im Bordell. Das schafft schon jeweils ungefähr die Atmosphäre, nur immer ein bisschen (oder sehr viel) drastischer als vorgesehen. Stilfragen stellen sich angesichts solcher Brechung nicht. Ob etwa der Haushofmeister der Marschallin höchstselbst sich bücken würde, um einen von Ochs weggeworfenen Zigarettenstummel aufzuheben? Der Baron hätte natürlich nie und nimmer irgendetwas aufs fürstliche Parkett fallen lassen.

Der Ochs als Edelmann

Umso ungenierter zeigt sich alles, was zwischen den Personen passiert, denn Robert Carsen führt sehr detailverliebt Regie, zeigt etwa den Ochs keineswegs als plumpen Wurstel, sondern lässt den auch stimmlich dezenten Franz Hawlata manchmal sogar beinahe vorsichtig agieren. Vom Land kommt er, der Edelmann, das ja, aber ein Edelmann bleibt er. Beim Militär ist er auch, was erklärt, warum der neureiche Herr von Faninal, der - wie bei Hofmannsthal, nur viel anschaulicher - ein Waffenschieber ist, sich auf diesen Schwiegersohn kapriziert: Franz Grundheber, vokal und als Gestalt eine Luxusbesetzung, führt den Bräutigam seinem bildhübschen und bis zum hohen Cis hinauf ätherisch singenden Töchterchen (Miah Persson) mit der nötigen Gewaltanwendung zu.

Und zwar aus Eitelkeit im Beisein unzähliger Offiziere und noch unzähligerer Lakaien, die Carsen über die Bühne des großen Festspielhauses verteilt, um diese voll und ganz zu füllen. Dass Angelika Kirchschlager zur Rosenüberreichung hoch zu Ross einreitet, setzt dem Übertreibungsspiel noch die Krone auf - der Bombast, den das Orchester getreulich nach den Noten von Strauss dazu entfesselt, findet sein ironisierendes optisches Gegenstück.

Unmittelbar danach, das gehört auch zur Realität dieser Salzburger Aufführung, malt Semyon Bychkov mit den Wiener Philharmonikern pianissimo mit viel Farbenpracht und Weichheit die aufkeimende Liebe zwischen Octavian und Sophie. In solchen Augenblicken nimmt sich dann auch die Regie zurück und lässt singen. Das ist sympathisch, entlarvt aber auch die nicht allzu üppigen Möglichkeiten, die Persönlichkeiten wie Adriana Pieczonka gegeben sind: Diese Marschallin singt makellos schön wie kaum eine Konkurrentin, formt hinreißende melodische Bögen und samtweiche Spitzentöne. Sonderlich charakterstark und differenzierend ist ihr Gesang jedoch nicht.

Doch behindert wohl auch das nach oben hin offene Bühnenbild die Entfaltung der Stimmen sehr. In manchen Momenten hört man die Sänger kaum. Auch Angelika Kirchschlager entfaltet sich mehr als Schauspielerin. Im dritten Akt zumal, in dem sich im schlüpfrigen Umfeld die Souper-Szene geradezu verkehrt: Octavian, so weiblich wie nie zuvor, treibt als Mariandl den Baron Ochs in die Katzenjammerstimmung. Das ist Komödiantik perfekten Zuschnitts.

Mag sein, dass Carsens Inszenierung in den ersten beiden Akten manchmal ins Stocken gerät. Im Finale ist sie auf Punkt und Komma mit der flinken Strauss'schen Dramaturgie harmonisiert. Die viele Nacktheit rundum verliert sich im riesigen Festspielhaus zum Dekor. Wie das unnötige Schluss-tableau mit Kaiser und Soldatenheer - ach ja, der erste Weltkrieg lag zu Rosenkavaliers Zeiten schon in der Luft! Viel beziehungsvoller nimmt sich die Anleihe an Schnitzlers "Reigen" aus, wenn das Liebespaar zuletzt im selben Bett landet, in dem zu Anfang Marschallin und Octavian erwacht waren.

Exzellent besetzte Klein- und Kleinstrollen tragen dazu bei, dass die Aufführung szenisch wie musikalisch liebevoll gestaltet wirkt: etwa die köstlichen Auftritte der Annina (Elena Batoukova) oder die belkanteske Idealerscheinung des italienischen Tenors, Piotr Beczala. En detail ist die Sache jedenfalls festspielreif.

↑DA CAPO