Henzes Requiem

Österreichische Erstaufführung

1. März 1993
Wenn sich hier und da dissonanzverschreckte Männer und Frauen zusammentun, um sozusagen organisiert einer »schönen neuen Musik« das Wort zu reden, dann übersehen sie dabei geflissentlich, daß es dieses Objekt ihrer Begierde längst gibt: Hans Werner Henze hat es, wenn schon nicht erfunden, so immerhin als erster nach Alban Berg salonfähig gemacht.

Salonfähig, das heißt: In Maßen auch für Kommentatoren interessant werden lassen, die ausschließlich dem Fortschrittsgedanken huldigen und alles Retrospektive unbarmherzig verdammen. Denn Henze versteht sich auf neue, auch auf modische Kompositionsweisen. Wie er sich auch auf den Zauber des es-Moll-Akkords versteht, der bei ihm, in zartem Geigengeriesel oder Vibraphongeklingel verschleiert oder ganz auf sich selbst gestellt, wie eh und je seine Wirkung tun darf.

So schafft er vor sich hin, erzählt in vielen Essays zudem Dinge, die den jeweils gerade aktiven Meinungsmachern im bundesdeutschen Feuilleton genehm sind (in den siebziger Jahren war's Linkes, jetzt ist es, wie vordem schon, mehr ätherische Kunstbetrachtung), und komponiert - dieserart von sich und seinem Werk ablenkend, also unangetastet - die Musik, die ihm gefällt; jenseits von aller musikalischen Ideologie, in der oben beschriebenen Mixtur.

Diese ist längst zu seinem Markenzeichen geworden. Unverwechselbar daher auch sein neuestes Werk, ein siebzigminütiges »Requiem«, das aus neun Instrumentalsätzen für 32 Spieler besteht und alles wieder vernehmen läßt, was man von diesem Komponisten seit langem gern hört: Vielfach aufgefächerte, raffiniert geschichtete und farbenprächtig arrangierte Reizklänge, dramaturgisch effektvoll gesteigerte Sequenzen über effektvollen Schlagzeugrhythmen und unendlich zarte Echoklänge, die wie aus weiter Ferne kommend, Vergangenes, Vergessenes beschwören.

Musik, die einhüllt, den Hörer liebevoll umfängt und uneingeschränkt genießbar ist, weil der Dur-Moll-Klang des Fin de siècle in ihr nachhallt, durch sie hindurchschimmert, ihr Rückgrat gibt, als wär' sie eine unausgesetzte Variation, eine halluzinatorische Weiterentwicklung Mahlerscher, Strauss'scher, Regerscher Stimmungs- und Tonwelten.

Sie wäre noch viel zielsicherer, viel wirkungsvoller, auch in der sanften Ekstase leidenschaftlicher darzustellen, als das diesmal, zwei Tage nach der deutschen Uraufführung, vom Patenensemble, dem Ensemble Modern unter Ingo Metzmacher, mit dem virtuosen Hakan Hardenberger als Solotrompeter, im Konzerthaus geschehen ist.

Immerhin, man konnte in vielfach überreiztem, herrlich aufgefächertem Wohlklang baden und die eine oder andere wohlgesetzte dramatische Steigerung genießen, vielleicht sogar Assoziationen imaginieren, die den Titeln »Dies irae«, »Rex tremendae« oder »Lacrimosa« - oder ganz anderen Dingen - entsprachen. Anregendes also im Wiener Musikleben.
Angeblich übrigens schon wieder ein Teil von irgendeinem der derzeit grassierenden »Festivals«; jedenfalls aber ein schandbar schlecht besuchter Abend in einem Abonnementzyklus.



↑DA CAPO