Mit seinen Variationen für Orchester op. 31 versuchte Schönberg zu beweisen, daß seine neue »Zwölfton-Methode« auch für groß angelegte Orchester-Kompositionen tragfähig war.
→ Die Variationen im Detail
Introduktion
Die Introduktion der Orchestervariationen gehört vermutlich zu den stärksten Eingebungen Schönbergs. Sie ist ein Musterbeispiel für seinen duftigen Instrumentationsstil, der im Vergleich zu den meist massiv gesetzten, dick instrumentierten Klangwelten der spätromantischen und der „atonalen« Phase, duftig und transparent geworden ist. Die ersten Takte zählen zum feinsinnigsten in Schönbergs Oeuvre: Sanft insistierende Tonrepetitionen, ferne Verwandte der Parallelstellen in Beethovens Violinkonzert, bringen die Bewegung in Gang, weiche Pendelbewegungen der Holzbläser gesellen sich hinzu. Immer weiter ausgreifend, legen sich melismatische Melodiebögen unter und über die harmonischen Flächen. (Die erste, ausdrucksvolle Legatophrase der Geigen exponiert bereits den motivischen Kopf des Variationsthemas). Die organisch sich entfaltenden Steigerungswellen treiben die Entwicklung einem intensiven Höhepunkt zu. Die Musik unterbricht sich jäh: Im Horn exponiert Schönberg seine Hommage an das große Vorbild: B-A-C-H. Eine beruhigende Passage leitet zumThema
Thema über, das in romantischer Manier als großer, schlicht harmonisierter Cellogesang vorgestellt wird. Es besteht, zuletzt von den Violinen aufgenommen aus den vier »Grundgestalten« der Zwölftonreihe, auf der das gesamte Werk basiert.Variation 1
In der ersten Variation überlagern einander bereits die Geschehnisse in komplizierteren kontrapunktischen Schichtungen. Die Oboen beginnen mit dem duettierenden Melodiebögen, die die gesamte Variation durchziehen, oft rasant von Instrumentengruppe zu Instrumentengruppe wechselnd. Die hohen Streicher exponieren zugleich die hüpfend rhythmischen Figuren, die der Variation ihre hektische Agilität verleihen. Ebenfalls vom ersten Takt an grundieren die Baßinstrumente das Geschehen mit deutlichen Zitaten des originalen Cellothemas.Variation 2
Ganz zart, kammermusikalisch strukturiert hebt sich von diesem ersten klanglichen Aufbegehren die zweite Variation ab. Holzbläser und Streichersoli, überwölbt von verzückten Geigenphrasen vereinigen sich zu luftigen Klangkonglomeraten. Schönberg läßt zwar keine eindeutigen tonalen Zuordnungen zu, verdichtet die Akkorde aber immer wieder zu kadenzähnlichen harmonischen Gebilden.Variation 3
Heftig kontrastierend dazu die folgende Variation: Das Horn bläst das Thema, heftig attackiert von Repetitionsfiguren des gesamten Orchesters, kraftvoll vorwärts getrieben von immer drohenderen, schließlich alle dynamische Kraft mobilisierenden Einwürfen des Schlagzeugs, als sollte das Thema, mit dem die Variation so selbstbewußt beginnt, radikal ausradiert, überlagert, vergessen gemacht werden.Variation 4
Dem folgt ein duftig klimperndes Intermezzo, in dem der Komponist die vielen hell und metallisch klingenden Zusatzinstrumente mobilisiert, die er zum gewohnten Orchesterapparat fügt. Die Flöte führt den springlebendigen, leichtfüßigen Reigen an, der zuweilen an einen stilisierten Walzer gemahnt. Die Klarinette übernimmt, Streichersoli umspielen die weit ausschwingende Melodie. Die Geigen schließen sich an, steigern die Intensität, werden von den Holzbläsern aber wieder zu jener poetischen Abendstimmung zurückgeführt, wie Schönberg sie, anknüpfend an Gustav Mahlers Siebente Symphonie, schon in seiner Serenade op. 24 beschworen hat.Variation 5
Variation fünf bringt dafür die hohen Streicher zu glanzvoller Entfaltung. In langgezogenen Kantlienen erinnern die Violinen noch eimal an das BACH-Motiv. Die zuckenden Blechbläserakkorde gewinnen aber bald Oberhand. Die Musik wird immer katastrophiger, scheint zuweilen dräuend in sich zusammenzusinken und bricht zuletzt unter einer heftigen Schlagzeugattacke zusammen.Variationen 6 und 7
Wie ein einsamer, selbstvergessener Tanz gibt sich die folgende Variation, die ganz neue Klangkombinationen ausprobiert, Cellosoli, Soloklarinette, Soloflöte, Horn und Bratsche tänzeln.Variation 7 nimmt den Ton noch weiter in verhaltene Pianissimoregionen zurück, fast als würde die Musik von Ferne weithergeweht. Die Ruhe ist jedoch trügerisch. Bald ballen sich die Klänge, angestachelt von flackernden Bläsertönen, um sich bald wieder sanft ekstatisch aufzulösen.
Variationen 8 und 9
Die heftigste Attacke reitet die achte Variation: hysterische Bewegung der tiefen Streicher, umflattert von den Holzbläsern, vom Schlagzeug immer weiter angefeuert.Unmittelbar schließt sich die nur scheinbar milder gestimmte Nummer neun an, in der nach wenigen Augenblicken die tiefen Streicher mit dem Schlagwerk die nervöse Rhythmik des Vorangegangenen wieder aufnehmen. Ehe es zur Entladung kommt, hält die Musik inne: ein knapp gestoßenes Zitat des BACH-Motivs im Horn setzt den Schlußpunkt.
Finale
Flirrende Töne in Streichern und Flöten, wiederum am BACH-Motiv orientiert, führen ins ausgreifende Finale. Es gewinnt erste Konturen durch den behäbigen Tanz, den die Kontrabässe anstimmen. Von explosiv sich entladenden BACH-Zitaten der Blechbläser unterminiert. Vom Thema sind nur noch Fragmente zu erkennen. Sie zerstieben. Das BACH-Motiv gewinnt jetzt konsequent die Oberhand. Die Gesten und Figuren der vergangenen Variationen kehren schemenhaft zurück, immer dichter verwoben.Jede Generalpause führt zu neuen, immer rasanter werdenden Anläufen. Die letzte Steigerung, angeführt von den Zupfinstrumenten, wird gekrönt von einer Apotheose des BACH-Motivs in den Trompeten. Noch einmal hält das Geschehen in einer lyrischen Klangoase inne. Dann fegt eine grelle Stretta dem Fortissimo-Schlußakkord entgegen.
In ihrer koloristischen und expressiven Vielfalt gehören die Orchestervariationen zu den reichsten, brillantesten Werken Schönbergs. Die strenge der Konstruktion merkt man ihnen nicht an, zumal die phantasievolle Instrumentation mit ihren vielfältigen Valeurs den Farbenreichtum der früheren Orchesterkompositionen des Meisters noch übertrifft.
Schönbergs klanglicher Ideenreichtum, der sich später vor allem in der Oper Moses und Aron zu voller Blüte entfalten wird, tritt hier zutage. Erstmals ist die Luzidität der gemischt besetzten kammermusikalischen Werke, vor allem des Pierrot Lunaire und der Serenade auf das große Orchester übertragen. Das im Rahmen der Zwöfltonmehtode formulierte, von Schönberg selbst bald umgestoßene „Verbot« von Oktavverdoppelungen eliminiert von vornherein jene Wagnersche Klangmassierung, die in früheren Schönberg-Kompositionen noch nachklang und von der letztendlich auch noch die Kammersymphonie op. 9 gekennzeichnet war, obwohl deren minimierte Besetzung bereits den Willen zu einer neuen Klangästhetik verraten hatte.
Was damit grundsätzlich beabsichtigt war, hatte Schönberg damals nicht erreicht. Das bekannte er viele Jahre später selbst und erstellte eine Version der Kammersymphonie für großes Orchester. Mit den Variationen op. 30 war jedoch dank des „Oktavenverbots« der Dodekaphonie das Ziel, die höchste Durchsichtigkeit, erstmals in greifbare Nähe gerückt.
Dieses klangtheoretische Faktum ist bisher viel weniger beachtet worden als die konstruktive Seite der ersten zwölftönige Orchesterkomposition. Die Variationen gehören zu den meistanalysierten Stücken Schönbergs. Vor allem das Thema war Anlaß vieler Untersuchungen. Dies wohl deshalb, weil es die Möglichkeiten, die eine Zwölftonreihe bietet, sozusagen demonstrativ vor Augen (und Ohren) führt:
Die vier Phasen der melodischen Entwicklung (5+7+5+7 Takte) umfassen jeweils eine „Spielart« der Grundreihe. Die Celli beginnen mit der Reihe selbst,
schließen dann die Krebsumkehrung der Reihe an.
Es folgt der Krebs der Reihe,
dann die Umkehrung.
Schönberg weist in seinem Aufsatz über die „Komposition mit zwölf Tönen« nebst Anmerkungen zur Reihentechnk ausdrücklich auch auf die klangliche Komponente des neuen Stils. Er erläutert zum Beispiel die reihentechnischen Prozeduren, die ihm ermöglichten, Instrumentallinien in Terzen und Sexten parallel zu führen, was zu dem geradezu nachbrahmsisch-vertrauten Klangbild vieler Episoden der Variationen beigetragen hat.
Solche Anlehnungen an althergebrachte, romantische Stilmittel sind keine Konzession an den Publikumsgeschmack, sondern sorgen in Wahrheit für die Kontinuität in Schönbergs Werk, das ja aus der Spätromantik schrittweise herausgewachsen ist.
Uraufführung unter Furtwängler
So hat wohl auch der Dirigent der Uraufführung, Wilhelm Furtwängler, berühmt für seine Interpretationen romantischer Musik, seinen Zugang zu dem Stück gefunden, das er mit den Berliner Philharmonikern im Dezember 1928 aus der Taufe hob.
„Das Werk wurde von niemandem verstanden“, berichtete der Augen- und Ohrenzeuge der Uraufführung, Emil Hertzka, dem Komponisten, der es wieder einmal vorgezogen hatte, nicht anwesend zu sein: Nur „einige wenige Auserwählte“, kommentiert Hertzka in seinem Brief an Schönberg, seien dem Stück nicht „verständnislos gegenüber gesessen (...) Der einzige Mensch, der in der Lage gewesen wäre, zu beurteilen, ob die Aufführung gut oder schlecht war, wären Sie gewesen“.
Schönberg war dem Uraufführungsrummel ausgewichen, verbrachte die Zeit - nicht zuletzt wegen seiner Anfälligkeit für Asthma - an der Riviera und komponierte in Roquebrun an seiner Oper Von heute auf morgen.
Er meinte jedoch, in einer Art spiritistischem Kontakt zur Berliner Philharmonie zu stehen. Die Tagebuchaufzeichnung, die davon berichtet, ist eines der vielen Dokumente für Schönbergs Neigung zu übersinnlichen Phänomenen:
Am Tag der öffentlichen Generalprobe (Sonntag vormittags) saß ich in meinem kleinen Zimmer und arbeitete. Plötzlich wurde mir schlecht, und ich mußte schließlich aufhören zu arbeiten. Ich ging zu meiner Frau ins andere Zimmer und sagte, mir sei so schlecht, daß ich nicht weiterarbeiten könne. Indem ich das sage, wurde mir besser. ,Jetzt wird mir besser‘, sagte ich zu meiner Frau, und in diesem Augenblick fiel mir die Uraufführung meiner Variationen ein, die ich vergessen hatte. Ich sah auf die Uhr: es war ungefähr 1/2 12, und nun fiel mir auch die Lösung des Rätsels ein: die Zeitdifferenz zwischen der französischen und der deutschen Zeit: Eben war der Skandal bei meiner Aufführung gewesen, den hatte ich gefühlt, und darum war mir vor Aufregung schlecht worden.
Mehr noch als bei anderen Gelegenheiten, bei denen Schönberg derart übersinnliche Ereignisse beschreibt, sind hier vielleicht Zweifel an der Glaubwürdigkeit solcher Begebnisse angebracht. Vor allem deshalb, weil höchst unwahrscheinlich ist, daß ein Komponist tatsächlich auf die prominent besetzte Uraufführung eines seiner größten Werke „vergessen« könnte.
Wie auch immer: Die Uraufführung war skandalumwittert, was bei Schönberg nicht ungewöhnlich scheint, in diesem Fall aber bereits überschattet war vom Heraufdämmern politischer Katastrophen. Nur wenig später sollte Arnold Schönberg zu jenen gehören, die als Vertreter der sogenannten „Entarteten Kunst« offiziell geächtet wurden.
Noch aber war Berlin eine lebensfrohe, pulsierende und allem Neuen durchaus aufgeschlossene Stadt. Hertzka berichtet in seinem Brief auch von keinem richtigen „Skandal“, sondern von einem „Skandälchen“, das durch eine „Schar unentwegter Pfeifer und Zischer« provoziert worden sei und nur von der Presse „übermäßig aufgebauscht« wurde.
Ein Vergleich mit den frühen Erschütterungen, wie Schönberg sie in Wien - vor allem anläßlich des legendären Musikvereins-Konzerts im Jahre 1913 - erleben mußte, war also keine Rede. Alban Berg berichtete für das „Neue Wiener Journal« über die Uraufführung und schrieb: „Man sprach von einem Skandal. - Was ist wirklich geschehen: Schönbergs Werk ist ungestört zu Ende gespielt worden und nachher hat ein Teil des Publikum gepfiffen, der andere hat applaudiert. Ist das schon so etwas Furchtbares?“
Und doch galt Schönbergs Musik als insgesamt unverständlich. Selbst Interpreten, die sich der jüngsten, zwölftönigen Werke des Komponisten annahmen, machten oft kein Hehl daraus, daß ihnen die Klänge, die sie da auf dem Podium zu überwachen hatten, im innersten fremd blieben.
Vorkämpfer Adrian Boult
Symptomatisch für diese eigenwillige Mischung aus Vorkämpfertum und Unverständnis sind die Äußerungen von Sir Adrian Boult, der im Anschluß an eine Wiedergabe der Verklärten Nacht am 13. November 1931 immerhin die britische Erstaufführung der Orchestervariationen in London leitete. Er könne sich an dieser Musik keienswegs „erfreuen“, kommentierte Boult, wenn er auch die technische Meisterschaft des Komponisten bewundere. Es sei auch ein artistisches Vergnügen für den Dirigenten, die Vorschriften bezüglich der „Haupt- und Nebenstimmen“, die Schönberg seit geraumer Zeit penibel in den Partituren angab, akkurat zu befolgen und deren Ausführung zu kontrollieren.
Schönberg bedankte sich bei Boult immerhin über die „besonders schöne, klar und lebendige Wiedergabe« seines Werks, die er im Radio hören konnte.
Boult war von den Variationen offenbar artistisch fasziniert genug, um sie auf eine Tournee mit dem BBC-Symphonieorchester mitzunehmen.
Erstaufführung in Wien
Im Rahmen dieser Reise dirigierte er dann auch die Erstaufführung des Werkes in Wien am 23. April 1936, bei welcher Gelegenheit ein österreichische Politiker indigniert gefragt haben soll, wer denn „dieser Schönberg überhaupt sei“.
Die Wiener Kritik zeigte sich damals eher von der am selben Abend vorgestellten Vierten Symphonie des Engländers Ralph Vaughan Williams angetan; und waren erstaunt über die Tatsache, daß in Londoner Orchestern Damen mitspielen durften...