Die Musikwelt spricht von den neun Symphonien Anton Bruckners, doch gibt es tatsächlich noch zwei vom Komponisten verworfene Werke. Eines davon hat er selbst als Nullte bezeichnet, die andere ist die zu allererst entstandene, im Fachjargon sogenannte Studiensymphonie in f-Moll.
Doch darf man sich nicht damit zufrieden geben, von elf verschiedenen Symphonien zu sprechen. Die meisten seiner numerierten Symphonien hat Bruckner mehrfach überarbeitet und dabei im Falle der Vierten, der von ihm selbst sogenannten »Romantischen«, sogar ganze Sätze ausgetauscht - das berühmte Jagd-Scherzo ist erst in der zweiten Fassung enthalten - beziehungsweise wie das Finale stark und mit teilweise verändertem Themenmaterial überarbeitet.
Lediglich die Symphonien V, VI und VII sind den Musikfreunden in ihrer ursprünglichen Version geläufig. Von der letzten, der Neunten Symphonie existieren nur drei vollendete Sätze und ein großer Torso von einem Finalsatz, von dem bei Bruckners Tod möglicherweise noch mehr Material existierte, das aber Souvenirjägern zum Opfer fiel und großteils unwiederbringlich verloren scheint.
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Über die problematische Frage der richtigen Numerierung der Brucknerschen Symphonien und über die stilistische Entwicklung des Komponisten von der Studiensymphonie in f-Moll über die Erste, »Nullte« und Zweite zum unverkennbaren Bruckner-Stil sprach Christian Thielemann in einem Interview 2021.
Christian Thielemann erklärt
Der Dirigent hat mit den Wiener Philharmonikern 2021 im Zuge einer Gesamtaufnahme der Brucknerschen Symphonien sowohl die Nullte als auch die sogenannte Studiensymphonie in f-Moll für DVD und CD aufgenommen. Im Gespräch erläutert er die Problematik der Numerierung der Brucknerschen Symphonien und den Charakter der beiden »ausgeschlosssenen« Werke.
20. März 2021
Christian Thielemann wäre dieser Tage als künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele im Dauereinsatz gestanden. Die Veranstaltungen des Festivals wurden nun aus bekannten Gründen auf die Zeit um Allerheiligen verschoben. Da wird es ein Wiederhören mit Thielemanns Sächsischer Staatskapelle Dresden in Salzburg geben. Weil aber nun nicht nur er, sondern auch die Wiener Philharmoniker geplante Aktivitäten absagen mussten, ist Thielemann doch nach Österreich gereist. Bereits vor Kurzem gab es einen eingeschobenen Aufnahmetermin im gemeinsamen Bruckner-Zyklus. Nun geht es in der Karwoche noch einmal um dieses Großprojekt.
Erstmals nehmen ja die Philharmoniker mit ein und demselben Dirigenten alle Bruckner-Symphonien auf. „Und zwar wirklich alle“, sagt Thielemann. „Das heißt nicht neun, sondern elf!“ Die gewonnenen Termine nützt man nämlich, um auch die sogenannte Studiensymphonie in f-Moll und die Nullte in d-Moll einzuspielen. Das ist eine weitere Premiere für die Philharmoniker, die diese Werke nicht in ihrem Repertoire haben.
Schon anlässlich der Aufnahme der Ersten Symphonie vor einigen Wochen konnte Thielemann konstatieren, dass „dieses meisterlichste aller Bruckner-Orchester das Stück so gut wie gar nicht kannte. Man hat die Erste das eine oder andere Mal gespielt, aber zwischen diesen Aufführungen vergingen immer Jahrzehnte.“
Dissonanzen logisch klingen lassen
So kam es anlässlich der Einstudierung zu dem kuriosen Faktum, dass sich im Notenmaterial der Wiener Philharmoniker bei einer Bruckner-Symphonie zahlreiche Fehler fanden. Aber nicht alles, was seltsam klingt, ist einem Druckfehler anzulasten. „Es gab Stellen im Finale“, erzählt Thielemann, „da dachten die Bläser, irgendein Kollege spiele da falsch“, weil sich höchst ungewohnte Dissonanzen ergaben. Das hatte allerdings mit eigenwilligen harmonischen Vorstellungen Bruckners zu tun. „Das sind ganz komplizierte Akkordfolgen“, erläutert der Dirigent, „bei denen ein Vorhalt sozusagen in den anderen mündet.“
Solche Stellen aufzulichten und logisch klingen zu lassen, erfordere heikle Balancearbeit, die auch mit der Tempodramaturgie zu tun haben: „Man darf da nicht zu schnell sein, das haben wir dabei gelernt. Wir haben das Tempo ein wenig gedrosselt, dann klang es wunderbar!“ Der gemeinsame Lernprozess in Sachen Bruckner erreicht nun mit der Einstudierung der beiden Frühwerke einen neuen Höhepunkt.
Wobei die Nomenklatur irritierend wirken kann, denn sie spiegelt keineswegs die historische Realität wider. Thielemann: „Man sollte sich da etwas überlegen bei der Nummerierung dieser Symphonien: Die sogenannte Nullte ist nämlich in Wahrheit nach der Ersten entstanden. Bruckner fand sie dann aber nicht geeignet, um in den Kanon seiner offiziellen Werke aufgenommen zu werden. Dennoch ist er aber daran gegangen, eine vollgültige Symphonie zu schreiben. Das sollte man nie vergessen.“
Das gelte auch für die „sogenannte Studiensymphonie, die Bruckner dann auch nicht mehr wollte, die aber doch ein sehr gutes Scherzo hat und insgesamt ungebremst dahinstürmt“. Musikfreunde könnten da ihre Assoziationsgabe testen: „Das ist Musik, die hie und da nach Mendelssohn klingt, hie und da auch nach Beethoven, dann wieder irgendwo zwischen Marschners ,Hans Heiling' und Wagners ,Fliegendem Holländer' angesiedelt ist. Auch Cherubini kann man vielleicht entdecken, ein bisschen ,Medea'. Sogar Verdi kommt vor! Bruckner hat ja viele Opern zumindest aus den Klavierauszügen gekannt.“
Freilich: „Im langsamen Satz gibt es schon Partien, wo man sagt: Das klingt aber jetzt nach Bruckner. Das würde man auch sagen, wenn man nicht wüsste, dass die Musik tatsächlich von Bruckner ist.“
Salzburg profitiert
Bei der „Nullten“ kann es dann kaum noch Zweifel geben. „Da atmet schon die Dritte vor“, sagt Thielemann, „also die Nummerierung der Symphonien müsste eigentlich wie folgt sein: (Eins) für die f-Moll, Eins, (Zwei) für die d-Moll, bei der von Null keine Rede sein kann, und dann Zwei, Drei und so weiter.“ Bei dieser Zählung sind allerdings die verschiedenen Fassungen der nummerierten Symphonien noch nicht berücksichtigt, die sich ja zum Teil drastisch unterscheiden.
In der Vierten fehlt etwain der Urfassung noch das berühmte „Jagdscherzo“, das die Symphonie so populär gemacht hat. „Wer weiß“, sagt Thielemann, „wenn wir mit den elf Aufnahmen durch sind, nehmen wir vielleicht noch die eine oder andere Alternative auf.“ Einstweilen sind die Philharmoniker und er aber noch mit der Vervollständigung der geplanten Aufnahmen beschäftigt. Davon profitieren auch die Hörer bei den Salzburger Festspielen, wo heuer die Siebente und im kommenden Jahr die Neunte auf dem Programm stehen sollen. „Die Sechste spielen wir kommende Saison im Abonnement“, verrät der Dirigent und hofft dabei, wie alle Musikfreunde, auf eine rechtzeitige Normalisierung des Kulturlebens.
Wobei er der derzeitigen Situation durchaus positive Aspekte abgewinnen kann: „Wir haben jetzt viel mehr Zeit zum Probieren“, sagt er, „was vor allem bei Stücken wichtig ist, die das Orchester so gut wie gar nicht kennt. Überall bei Bruckner finden sich ja äußerst heikle Passagen, wie die geschilderten harmonischen Abenteuer in der Ersten, aber auch vertrackte Geigenstellen.“
Ohne Pandemie wäre wohl auch nicht die nötige Zeit zur Einstudierung der beiden nie gespielten Frühwerke Bruckners vorhanden gewesen: „Da heißt es schnell studieren, „Turbo-lernen“, sozusagen. Man muss das ja auch noch verdauen, ehe man ans Werk geht!“
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Die neun numerierten Werke
Symphonie Nr. 1 c-Moll
I. Allegro
II. Adagio
III.Scherzo. Schell.
IV. Finale. Bewegt, feurig
Die Uraufführung seiner ersten für vollgültig erklärten Symphonie dirigierte Anton Bruckner selbst am 9. Mai 1868 in Linz. In der oberösterreichischen Hauptstadt war er damals bereits gut verankert. Die Uraufführung seiner Messe in d-Moll, hatte ihn 1864zu einer Linzer Berühmtheit gemacht. Die Symphonie entstand zwischen dieser und der aparten Messe in e-Moll, die Bruckner 1866 vollendete.
Musikalisch war Bruckner in jener Zeit nicht zuletzt durch das tiefe Erlebnis einer Linzer Tannhäuser-Produktion geprägt, die ihn zu einem glühenden Anhänger Richard Wagners machte.
Die Quellen legen übrigens nahe, daß das stürmische, aufbegehrende Finale als erstes entstand und die drei übrigen Sätze erst danach komponiert wurden. Anläßlich einer Reise nach München, bei der er auch Wagner persönlich kennenlernen konnte, hatte Bruckner den ersten Satz, das Scherzo und das Finale der Symphonie im Gepäck. Nur das Adagio fehlte noch. Bei dieser Gelegenheit soll sich Hans von Bülow, der später gegenüber dem Komponisten ziemlich skeptisch war, lobend und interessiert geäußert haben.
Am 14. April 1866 lag die komplette Partitur vor. Das Adagio, eines der schönsten des frühen Bruckner, war zwischen Ende Jänner und Mitte April dieses Jahres entstanden.
Im Zuge rigoroser Neubearbeitungen älterer Werke nahm sich Bruckner in seiner Wiener Zeit auch die Erste noch einmal vor und schrieb 1890/91 die Wiener Fassung des Werks, die dann auch in Druck ging. Die Linzer Fassung kam für die Musikwelt erst Jahrzehnte später ans Licht, gilt in ihrem stürmischen Überschwang seither aber als erste Wahl für die Dirigenten.
Text.
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Symphonie Nr. 2
I. Allegro. Ziemlich schnell
II. Andante. Feierlich, etwas bewegt.
III. Scherzo. Schnell
IV. Finale. Mehr schnell
Heikle interpretatorische Balanceakte gefragt!
Die Zweite ist vielleicht die am seltensten diskutierte der numerierten Brucknersschen Symphonien.
Sie exisitert in zwei höchst unterschiedlichen Fassungen, die freilich in der Praxis lange Zeit amalgamiert wurden.
Exakt elf Monate, vom Oktober 1871 bis September 1872 dauerte die Arbeit an der ersten Fassung der Zweiten Symphonie. Sie ist Frucht einer Zeit in der Bruckner triumphale Erfolge als Organist feiern konnte. Die ersten Takte schrieb er in Partitur, als er von der erfolgreichen Tournee durch England zurückkehrte. Über dem ersten Satz hieß es ursprünglich Symphonie Nr. 3, doch schon im Laufe des Jahres 1871 war für Bruckner klar, daß er die später als Nullte bezeichnete d-Moll-Symphonie nicht als vollgültig erklären würde. So wurde das Werk die Zweite Symphonie.
Im Zuge einer ersten Revision ergänzte Bruckner vor der Fertigstellung des Gesamtwerks in St. Florian noch die Coda des Adagios, womit dieser Satz den für ihn später - mit Ausnahme der Sechsten Symphonie - verbindlichen Rondo-Charakter erhält. Formal interessant ist die Tatsache, daß Brucker urspürnglich das Scherzo als zweiten Satz der Symphonie vorsah. Es entstand auch vor dem Adagio, das in der letzten Phase der Revision allerdings an die zweite Stelle rückte.
Die Uraufführung, 1873 im Wiener Musikverein, bescherte Bruckner großen Erfolg - aber auch → skeptisch-abwartende Kritiken.
I. Mehr langsam. Misterioso.
II. Adagio. Bewegt, quasi andante.
III. Scherzo. Ziemlich schnell
IV. Finale. Allegro
Bei dieser Symphonie ist das »Fassungs-Problem« besonders heikel.
Die Dritte existiert in drei Versionen, deren erste zu Lebzeiten des Komponisten nie erklungen ist. Schon vor der - desaströsen - Uraufführung hat der Komponist die kühne, mit Wagner-Zitaten gespickte Partitur stark verkürzt und in ihrer harmonischen Radikalität entschärft.
I. Bewegt, nicht zu schnell
II. Andante quasi allegretto.
III. Scherzo. Bewegt
IV. Finale. Bewegt, doch nicht zu schnell
Die verschiedenen Spielarten der »Romantik« bei Bruckner.
Die Vierte sie seine »Romantische«, meinte Bruckner selbst. Tatsächlich gelten die Naturlaute des Symphonie-Beginns, vor allem aber das sogenannte »Jagd-Scherzo« als Inbegriff der musikalischen Romantik, als übertragung deutscher Opernromantik Webers und Wagners in den Konzertsaal.
Doch schon beim Scherzo muß sich der Musikfreund vergegenwärtigen, daß es sich bei diesem Satz um eine Ersatzvornahme handelt. Jenes Stück, das die »Romantische Symphonie« populärer gemacht hat als alle anderen Brucknerschen Werke, war in der Urfassung der Symphonie (1874) noch gar nicht enthalten.
Im Gegenteil: Das Scherzo der ersten Version hatte zwar auch den Charakter einer Jagd, allerdings tobte da eher Wotans wilde Jagd durch den Saal als die idyllische Genre-Szene, an die sich die Musikwelt so gern gewöhnt hat.
Die Mißerfolge, die Bruckner einstecken mußte, hatten ihn hellhörig gegen seine Ratgeber gemacht - und dazu geführt, an seine Es-Dur-Symphonie kräftig Hand anzulegen. Der Ersatz des dritten Satzes ist nur ein Teil der Geschichte.
Das Finale
Das große Finale, der bis dahin längste Schluß-Satz einer Bruckner-Symphonie, mußte ebenfalls kräftige Kürzungen und Veränderungen über sich ergehen lassen. Es liegt in drei verschiedenen Varianten vor, die inhaltlich vor allem durch das zerklüftete, jäh abstürzende Hauptthema geeint werden, das in jeder Version auf andere Art eingeleitet wird. Vier Jahre nach Entstehung der ersten Fassung der Symphonie hat Bruckner dieses Finale einer eingehenden Revision unterzogen und daraus einen vielleicht als selbstdändige Tondichtung gedachten Satz namens Volksfest gemacht (1878).
Georg Tintner hat eine klangschöne Wiedergabe dieser »Volksfest«-Fassung des Finalsatzes mit dem Royal Scottish Orchestra aufgenommen und auf CD mit der »Studiensymphonie« in f-Moll veröffentlicht. (Naxos)
Der Sensationserfolg der Uraufführung gab Bruckner und seinen Ratgebern recht: Die Letztfassung ist weitaus weniger kantig und kompromißlos als die ursprüngliche Version, mehr an Richard Wagners Klangästhetik orientiert.
Daß Bruckner nie ganz »absoluter« Musiker war, sondern stets zumindest in Bildern, wenn nicht in »Programmen« dachte, bestätigen inhaltliche Assoziationen, die er für den Beginn seiner Vierten Symphonie Freunden mitteilte:
Mittelalterliche Stadt – Morgendämmerung – von den Stadttürmen ertönen Morgenweckrufe – die Tore öffnen sich – auf stolzen Rossen sprengen die Ritter hinaus ins Freie – der Zauber des Waldes umfängt sie – Waldesrauschen, Vogelgesang –
und so entwikkelt sich das romantische Bild weiter.
Nicht minder pittoresk-naiv nimmt sich seiner Verweis auf den zweiten Satz der Symphonie aus, der seltsam querzustehen scheint gegen den trauermarschartigen Puls der Musik, könnte aber gleichzeitig als Hinweis auf eine fehlgeleitete Aufführungs-Tradition gedeutet werden:
Im zweiten Satz will
ein verliebter Bub ›Fensterln‹ gehn, wird aber nicht
eingelassen.
Beim Eintritt des zweiten
Themas (in den Bratschen) schreibt der Komponist in der Partitur der Erstfassung ausdrücklich: »Ständchen«.
Seinem Schüler Viktor Christ vertraute Bruckner über das Finale an, es
schildere »die Schauer der Nacht, die nach einem
schön verlebten Tag hereinbrechen«. Der Choral am Ende der Symphonie sei »der Schwanengesang der Romantik«.
Wobei manche Interpreten auch in der von Leopold Nowak edierten Partitur, orientiert an des Komponisten »letztem Willen« (1888/89) mit dem neuen Scherzo (Bruckner: »Hasenjagd« - und zum idyllischen Ländler-Trio: »Rehbratel«), noch genügen musikalisch-aufrüherisches Potential entdecken konnten.
Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist Otto Klemperers erste Schallplattenaufnahme mit den Wiener Symphonikern (VOX), in der sich die Dinge in der Introduktion zum Finale überschlagen zu scheinen: Einen derart dramatischen Ton findet kein zweiter Dirigent.
Auch Klemperer selbst rundet die Klänge in seiner klassisch gewordenen Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra merklich ab.
Die vielleicht in sich geschlossenste Darstellung der erfolgreichen dritten Fassung des Werks bot Bruno Walter mit seinem Columbia Orchestra (CBS), er versteht sich auf den romantischen Erzählton und die dramatische Entfaltung gleichermaßen.
Absolut stimmig auch Eugen Jochums Einspielung mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die auch in der verdienstvollen Bruckner-Gesamtaufnahme dieses Dirigenten (DG) enthalten ist. Hier fließt die Musik in einer Natürlichkeit, als wäre Bruckner-Interpretation das Einfachste auf der Welt . . .
Wie der sprichwörtliche Schnabel gewachsen ist, spielen natürlich die Wiener Philharmoniker diese Musik. Ihre Aufnahme unter Karl Böhms Leitung (Decca) fängt den spezifischen Klangstil, den der Komponist wohl auch im Ohr hatte, am besten ein. Zwar ist das Orchesterspiel Jahrzehnte später unter Claudio Abbado (DG) noch einmal sauberer und leuchtend schön, doch die formale Übersicht, die Böhm wahrt, bleibt Abbado vollkommen verwehrt.
Die erste Fassung
Die Urfassung des Werks muß aber gehört haben, wer den Werdegang des Symphonikers Bruckner mitverfolgen möchte. Wie auch immer man zur Letztfassung der »romantischen Symphonie« stehen mag, sie stellt eine arge Verfälschung dessen dar, was ursprünglich geplant war. Die wilden, ungezügelten Gesten der ersten Version verraten uns den »modernen« Komponisten, den »Zukunftsmusiker«, der im übrigen das Hauptmotiv, das eingangs im Horn ertönt, konsequent und in kühner Durchführungstechnik durch alle Sätze hindurch verfolgt - der Beginn des Scherzos ist in der ersten Fassung der Symphonie tatsächlich so etwas wie ein Satyrspiel auf den Symphoniebeginn - eine Assoziationsmöglichkeit, die im beliebten »Jagdscherzo« nicht mehr gegeben ist.
Simone Young hat alle Bruckner-Symphonien jeweils in den ersten vom Komponisten erstellten Partitur-Fassungen mit der Hamburger Philharmonie aufgenommen. Eine verdienstvolle Edition, die Bruckners ungebrochene Entwicklungslinie bis zur Sechsten Symphonie erleben läßt.
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Symphonie Nr. 5 B-Dur
I. Introduktion. Adagio - Allegro
II. Adagio. Sehr langsam
III. Scherzo. Molto vivace
IV. Finale. Adagio - Allegro moderato
Von dieser Symphonie, die zwischen Februar 1875 und Mai 1876 entstand, existiert nur eine Fassung. Bruckner konnte das Werk nur in einer Version für zwei Klaviere hören, die Uraufführung in einer stark redigierten Fassung dirigierte Franz Schalk 1894 in Graz. Bruckner war bereits zu geschwächt, um die Reise dorthin anzutreten, konnte sich aber über die Berichte über einen großen Publikumserfolg freuen. Für die Nachwelt ist aber das Werk bewahrt, wie es der Schöpfer ursprünglich entworfen hat, weil Bruckner selbst keine Aufführungs-Version hergestellt hat. Der letztendlich durchwegs positive Grundton der Musik steht quer zu Bruckners persönlicher Lage zur Entstehungszeit, die von Selbstzweifeln, Niederlagen und finanziellen Problemen gekennzeichnet war. Der kühne Schwung, der in dieser Musik herrscht, die grandiose architektonische Organisation mit ihren gedanklichen und motivischen Verbindungen zwischen den einzelnen Sätzen - die Bruckner in der Vierte beispielsweise durch Einfügung des (allerdings populären) sogenannten »Jagd-Scherzos« dem Publikumsgeschmack zum Opfer brachte - machen die B-Dur-Symphonie zu einer Besonderheit im Schaffens-Katalog dieses Komponisten.
Gelingt es einem Dirigenten, die Übersicht zu wahren, zählt eine Aufführung dieser Symphonie zu den besonderen Anlässen im Konzertleben. Wie in der Vierten bereits ansatzweise versucht und später in der Achten noch einmal vollkommen erreicht, steuert dieses Werk auf ein krönendes, von kontrapunktischen Finessen erfülltes Finale zu, dessen gewaltiger Schlußchoral in der Aufführungspraxis manchmal von elf zusätzlichen Blechbläsern ausgeführt wird, die auf der Empore platziert sind. Noch Jahrzehnte nach Bruckners Tod taten sich Interpreten und Publikum vor allem mit dem anspruchsvollen, in manchen Passgen ungeheuer modern, geradezu pointilistisch anmutenden, komplexen Fugen-Finale schwer - man brachte ausgiebige Striche in der Paritur an, um schneller zur grandiosen Coda zu gelangen. Bereits der Erstdruck, 1896, noch zu Lebzeiten des bereits schwer kranken Komponisten, war durch eminente Retuschen und die besagte Kürzung im Finale gekennzeichnet - sogar vor der Hinzufügung von Becken und Triangel im Finale schreckten die Herausgeber nicht zurück. Ob Bruckner an dieser Druckausgabe in irgend einer Form beteiligt war, ist nicht zu belegen. Wahrscheinlich ist es nicht. Die letzten Spuren im Manuskript sind Eintragungen aus dem Jahr 1878.
Die unverfälschte Version der Partitur liegt erst seit der Ausgabe durch Robert Haas vor, die Jahrzehnte nach Bruckners Tod erschien. Überlegene Brucker-Interpreten wie Herbert von Karajan zelebrieren seither die ungekürzte Symphonie allerdings wie ein überwältigendes musikalisches Hochamt. Christian Thielemann wählte die Fünfte gern für wichtige Schnittpunkte seiner Karriere - etwa als Einstandskonzert seiner Amtszeit bei den Münchner Philharmonikern; ein Konzert, das für CD mitgeschnitten wurde.
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Symphonie Nr. 6 A-Dur
I. Majestoso.
II. Adagio. Sehr feierlich.
III. Scherzo. Nicht zu chnell
IV. Finale. Bewegt, doch nicht zu schnell
Die Sechste Symphonie entstand 1879/81. Unmittelbar nach Beendigung seines Streichquintetts begann Bruckner im September 1879 mit der Komposition. Fast auf den Tag genau nach zwei Jahren zog er den Schlußstrich hinter die Partitur des Finalsatzes. Während der Arbeit an der Symphonie komponierte Bruckner außerdem das Te Deum, das von Auftraggeber Hellmesberger bestellte Intermezzo für das Streichquintett und eine Neufassung des Finales der Vierten Symphonie.
Wie die Fünfte hat Bruckner auch die Sechste Symphonie nie zur Gänze in ihrer Orchesterfassung zu hören bekommen. Zu seinen Lebzeiten erklangen im philharmonischen Konzert in Wien lediglich die Mittelsätze unter der Leitung von Wilhelm Jahn. Erst 1899, drei Jahre nach Bruckners Tod, nahm Gustav Mahler die - allerdings stark gekürzte - gesamte Symphonie in die philharmonischen Programme auf. Ungekürzt erklang die Sechste erst 1901 in Stuttgart.
Wie im Falle der Fünften hat dieses traurige Schicksal auch sein Gutes: Bruckner hat, da er keine Aufführung selbst veranstaltetn konnte, die Sechste nach der Vollendung nicht mehr bearbeitet wie die meisten seiner übrigen Symphonien. Die Aufführungstradition basiert daher seit der Herausgabe des Originals, 1952, im Rahmen der Gesamtausgabe auf Bruckners unverfälschtem ursprünglichen Notentext.
Das Werk ist in der Folge immer ein Stück für Connaisseurs geblieben. Die aber schätzen die oft atenberaubend zugespitzte Dramatik in den raschen Sätzen und das tiefe Adagio, das unbedingt in eine Reihe mit den langsamen Sätzen der drei folgenden Symphonien gehört - formal allerdings ein wenig vom gewohnten Brucknerschen Schema abweicht. Das Adagio der Sechsten bringt drei Themen, die in der folge variiert und durchführungsartig gesteigert noch einmal erscheinen. Vor allem das trauermarschartige dritte Thema gehört zu Bruckners bewegendsten Eingebungen.
Aufnahmen
Die aufregendste Interpretation dieser Symphonie ist leider nur unvollständig überliefert. Wilhelm Furtwänglers Berliner Aufführung lotet Mitten im Zweien Weltkrieg in die existentiellen Seelenabgründe, die Bruckher hier beschwört - allerdings ist das Tonband mit der Aufzeichnung des ersten Satzes verloren gegangen. Die drei übrigen Sätze fanden sich in einem Konvolut mit Aufnahmen des Reichsrundfunks, das 1945 nach Rußland gebracht wurde. Die Berliner Philharmoniker brachten Anfang der Zwanzigerjahre des XXI. Jahrhunderts eine technisch exzellent aufbereitete CD-Version des erhaltenen Teils der Aufnahme auf CD heraus. Erregender ist diese Musik vermutlich nie zum Klingen gebracht worden.
Eine außerordentliche Wiedergabe des nach wie vor selten gespielten Werks gelang auch Furtwänglers einstigem Assistenten Jascha Horenstein 1961 mit dem London Symphony Orchestra. Dieser Livemitschnitt der BBC - mit einigen Imperfektionen namentlich in der Solo-Trompete - erschien bei Pristine Classics in einer technisch exzellenten Restaurierung - gehört zu den schönsten Dokumenten erfüllter, nicht einseitig weihevoller Bruckner-Deutung.
Im Studio gelang Joseph Keilberth zwei Jahre später eine gediegene Wiedergabe der Symphonie mit den Berliner Philharmonikern.
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Symphonie Nr. 7 E-Dur
I. Allegro moderato
II. Adagio. Sehr feierlich.
III. Scherzo. Sehr schnell. - Trio. Etwas langsamer
IV. Finale. Bewegt, doch nicht schnell
Die Uraufführung der Siebenten im Stadttheater Leipzig durch das Gewandhausorchester unter Artur Nikisch am 30. Dezember 1884 markierte Bruckners Landnahme in Deutschland. Die Begeisterung für die Novität war groß, Münchne sicherte sich eine Wiederaufführung der Symphonie, die Bruckner im März 1885 miterleben durfte. Diesmal dirigierte die Hermann Levi und der Komponist triumphierte. Der Münchner Erfolg mag mitgespielt haben beim Entschlß Bruckners, das Werk Wagners treuem Gönner König Ludwig II. zu widmen, der die Widmung auch annahm. Levi war es auch, der eine Spendenaktion ins Leben rief, um die 1000 Gulden Druckkostenbeitrag aufzubringen, die der wiener Verlegei Gutmann vorab eingefordert hatte. Tatsächlich wurde die Symphonie 1885 in Wien unter der Aufsicht von Bruckners Student Josef Schalk gestochen. All das mag den Komponist über seine melancholische Stimmung hinweggetröstet haben, die er noch im Februar 1885 in einem Brief an Nikisch zum Ausdruck gebracht hatte
Mir ist auf dieser Welt schon alles recht, und ich werde ganz gleichgiltig der edlen Menschheit gegenüber.
Skizze zum Finale
Referenz-Aufnahme
Der Siebenten Symphonie galt das allerletzte Konzert des großen Brucknerianers Herbert von Karajan am Pult der Wiener Philharmoniker. Das Konzert am 23. April 1989 war emotional für Orchester wie Publikum eines der bewegendsten Erlebnisse - Karajan, schon von schwerer Krankheit gezeichnet, schien an diesem Vormittag namentlich im Trauergesang für Richard Wagners im Adagio - in ungeahnte Tiefenschichten vorzudringen. Gepflegter Schönklang, wie man ihn diesem Dirigenten so gerne als vordergründige Attitüde vorgeworfen hat, war vollständig ausgeblendet: Die Musik tobte und wütete, reichte aber in den Satzschlüssen 1 und 4 in befreiender, ekstatischer Wirkung - um mit Hölderlin zu sprechen - »ins Offene« Der Livemitschnitt dieser Sternstunde, allerdings durch Passagen der Proben-Sitzungen für den CD-Schnitt »korrigiert«, bewahrt zumindest eine Ahnung davon für die Musikwelt.
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Die Symphonie für den Kaiser
I. Allegro moderato
II. Scherzo. Allegro moderato. - Trio. Langsam
III. Adagio. Feierlich langsam; noch nicht schleppend
IV. Finale. Feierlich, nicht schnell
Die Achte existiert in zwei Fassungen
Angesichts des gewaltigen Eindrucks, den jede Aufführung dieses Werks hinterläßt, scheinen → die programmatischen Anmerkungen, die Bruckner selbst zu seiner Musik gegeben hat, wie unzulänglich naive Bilder.
I. Feierlich. Misterioso
II. Scherzo. Bewegt, lebhaft. - Trio. Schnell.
III. Adagio. Langsam, feierlich
Wieviel wissen wir vom fragmentarisch erhaltenen Finale der Neunten Bruckner?
Aus Gesprächen mit dem Herausgeber der Gesamtausgabe, Herbert Vogg, und dem "Vollender" einer Spielfassung des Finalsatzes, → Benjamin-Gunnar Cohrs.
Seine Neunte Symphonie wollte Anton Bruckner "dem lieben Gott" widmen. Und er meinte: Der Schopfer
musse ihm halt Zeit genug lassen, um das, was ihm ganz gehören sollte, zu Ende reifen zu lassen.
Es sollte nicht sein. Bruckners Neunte ist als Torso überliefert, gilt als die große "Unvollendete" nach Schubert. Wie im Falle dieses Vorbilds, ranken sich auch um die mögliche Fortsetzung von Bruckners Neunter Mythen und abenteuerliche Spekulationen.
Es mangelt auch nicht an Versuchen, aus dem Wust an überlieferten Skizzen und Aufzeichnungen eine Spielfassung des Finalsatzes herzustellen. Vor allem die italienischen Komponisten Giuseppe Mazzucca und
Nicola Samale hatten sich bis 1996 als "Vollender" hervorgetan und immer wieder neue Revisionen ihrer
Auffuhrungsversion präsentiert.
Das war, wissenschaftlich betrachtet, stets ein dubioses Unterfangen, zumal die von Alfred Orel schon 1934 herausgegebenen "Skizzen und Entwurfe" keinen wie immer gearteten konkreten Bauplan erkennen ließen, der eine auch nur schattenhafte Andeutung von Bruckners Willen ermoglicht hatte. Leopold Nowak, langjahriger
Herausgeber der Bruckner-Gesamtausgabe im Wiener Musikwissenschaftlichen Verlag, hatte zwar an einer kritischen Betrachtung zu Orels Publikation gearbeitet, diese aber nie veroffentlicht.
Eine penible Aufarbeitung aller Quellen wurde auch dadurch erschwert, daß Kuriositatensammler nach
Bruckners Tod Bogen aus dem Manuskript entwendet haben. Teile der wertvollen Handschrift sind bis heute
verschollen.
Dadurch erhielten Spekulationen über die tatsächliche Gestalt des Finalsatzes, mit dem Bruckner sein Lebenswerk krönen wollte, noch mehr Nahrung. Mit John A. Philipps trat vor einigen Jahren aber ein Musikologe auf den Plan, der aus den Kompositionsversuchen der italienischen Bruckner-Verehrer Mazzucca und Samale die Konsequenzen zog und sie wissenschaftliche Glaubwürdigkeit untersuchte.
Eine vollige Umwälzung des historischen Bildes war die Folge. Die vorhandenen Skizzen und Fragmente
Bruckners - immerhin liegen einige Teile des Schlußsatzes fertig instrumentiert vor! - wurden neu gesichtet,
geordnet und so gereiht und aussortiert, wie sie vermutlich zu jenem Zeitpunkt vorlagen, als Bruckner, geschwächt von seiner Arbeit an der Zweitfassung der Achten und von seiner Krankheit, zu komponieren aufgehort hat.
Diese Version schien Herbert Vogg, Nowaks Nachfolger, glaubwurdig genug, um ihn als Zusatzband in die Gesamtausgabe aufzunehmen. Dieser Band liegt seit einigen Monaten vor und konfrontiert Musikfreunde mit einem gewaltigen Satzbeginn, der kuhne - und von Bruckner tatsachlich als endgultig betrachtete - Musik enthalt, der aber auch vieles relativiert, was von den selbsternannten "Vollendern" zuletzt als "Spielfassung" angeboten wurde.
Vogg sieht in den Versuchen Samales und Mazzuccas immerhin die Initialzundung: "Ohne sie ware die jetzt vorliegende Partiturausgabe nicht zustande gekommen; wenngleich ich es auch abgelehnt habe, die nicht von Bruckner stammenden Passagen der Spielfassung abzudrucken. Was wir vorgelegt haben, ist auf Punkt und
Komma von Bruckner geschrieben."
Was folgt: Eine Faksimile-Ausgabe von effektiv allen Notenblättern, die erhalten sind, auf denen Bruckner Skizzen und Entwurfe zum Finale der Neunten notiert hat. Sie ist im Druck und soll noch im ersten Halbjahr 1996 in den Handel kommen. Dann liegt nicht nur der sauber edierte Final-Band der Gesamtausgabe vor, der den vermutlichen "Endstand" der kompositorischen Arbeit festhalt, sondern ein Nachschlagwerk für Interessenten, die alles einsehen mochten, was von Bruckners Hand je zu seinem letzten Symphoniesatz existierte - und nicht in den Sammlungen privater Souvenirjäger gelandet ist.
Fazit des Verlegers: Der Traum von der moglichen Herstellung einer
glaubwurdigen Spielfassung des Finalsatzes der Neunten Bruckner sei damit ausgetraumt. Fur penible Dirigenten ergibt sich immerhin die Moglichkeit, den Satz einmal soweit auszuprobieren, wie Bruckner ihn tatsachlich vollenden - oder zumindest halbwegs klar seinen Verlauf festlegen - konnte.
Eine solche Auffuhrung könnte, so Herbert Voggs Vorschlag, einmal vor einer Darbietung der drei vollendeten Satze stattfinden. Zur Information der Hörer. Die Neunte klänge dann, wie gewohnt, mit dem herrlichen Adagio
aus, dem glaubwurdigsten Brucknerschen Schlüssel zu jenen Regionen, zu denen er vordringen wollte - seinem Widmungstrager entgegen.
Nikolaus Harnoncourt hat diesen Vorschlag des Verlegers wenig später realisiert, unter anderem mit den Wiener Symphonikern in Wien und mit den Philharmonikern in Salzburg. Die Salzburger Aufführung wurde mitgeschnitten und liegt als Tondokument auf CD vor.
Eine ganz andere Sicht der Dinge vertritt natürlich Benjamin Gunnar Cohrs, der im Verein mit zwei italienischen Wissenschaftlern eine Spielfassung des Finales hergestellt hat, die vor allem von Sir Simon Rattle propagiert wurde.
Im Gespräch rechtfertigt sich Cohrs damit, daß von Mozarts Requiem, das kaum je als Fragment aufgeführt wird, beim Tod des Komponisten weniger vorlag als von diesem Bruckner-Satz. ↓
Es ist bekannt, dass am Todestag Anton Bruckners auf dem Schreibtisch in der Wohnung des Meisters ein Notenkonvolut lag, das weitaus umfangreicher war als jenes, das die Österreichische Nationalbibliothek heute als Nachlass aufbewahrt. Es ist evident, dass eine ganze Reihe von Partiturbögen von Reliquiensammlern entwendet wurde. Seither grübelt die Musikwelt über der Frage, wie viele Blätter das waren - und wie viel vom Fragment gebliebenen Finalsatz rekonstruierbar sein könnte, wenn man die geraubten Handschriften wiederfände.
Der Schubert- und Bruckner-Forscher Benjamin-Gunnar Cohrs meint, ziemlich viel. Er hat im Verein mit Nicola Samale bereits mehrere Spielfassungen eines "vollendeten" Finales publiziert. Basierend auf den Vorarbeiten zweier weiterer Musikologen gelang unter Auswertung sämtlicher Quellen und auf Basis eines genauen Studiums von Bruckners spätem Kompositionsstil ein für viele Kommentatoren glaubwürdig klingendes Resultat.
Wie viel ist dabei tatsächlich von Bruckner, wie viel von Samale, Phillips, Cohrs und Mazzuca? Cohrs im Gespräch mit der "Presse": "Das kann man nicht einfach mit einer eindeutigen Zahl von x Prozent beantworten. Die Exposition des Satzes war schon völlig fertig instrumentiert, der weitere Verlauf bricht erst kurz vor dem eigentlichen Satzschluss ab. Im horizontalen Verlauf waren etwa 15 Prozent zu ergänzen; die Vertikale wird aber immer dünner, sodass der Anteil der ergänzten Instrumentierung bis zum Schluss hin immer mehr zunimmt."
Wobei der Schluss des Werks, in dem Bruckner wie in den früheren Symphonien auch quasi eine Summe aus allem Vorangegangenen gezogen hätte, vollständig fehlt. Im Verlauf des Satzes waren überdies 96 Takte zu ergänzen, die beim Tod des Komponisten mit Sicherheit als Partiturskizze vorlagen. Irgendwo in der Welt könnten sich die entsprechenden Bögen erhalten haben.
Schon Nikolaus Harnoncourt, der sowohl mit den Wiener Symphonikern als auch mit den Philharmonikern zu Gehör brachte, was unzweifelhaft von Bruckners Hand erhalten war, meinte süffisant ins Publikum: "Schauen Sie bitte auf Ihren Dachböden nach . . ."
Die Spur führt zu einem Privatsammler
Wobei es den begründeten Verdacht gibt, dass ein Wiener Privatsammler zumindest einige der unschätzbar wertvollen Blätter in seiner Sammlung hütet und nicht einmal für die wissenschaftliche Auswertung herauszugeben bereit ist. "Doch auch ohne Kenntnis dieses Materials hätte", so Cohrs, "unser Team hier insgesamt einen erheblich geringeren Anteil als Franz Xaver Süßmayr an der Komplettierung von Mozarts Requiem!"
Für den heikelsten Teil, die Komposition einer Coda, die, so Cohrs, "wirklich nach dem Bruckner der Neunten Symphonie klingen" sollte, hatten die vier "Vollender" eine 57 Takte lange Skizze des Komponisten zur Verfügung, von der sie, wie Peter Gülke einmal gemeint hat, "dem Material abhören mussten, wo es hinwill".
So bekomme das Publikum "zumindest eine Ahnung von dem Gesamtbild, das Bruckner vorgeschwebt haben mag". Und das, sagt Cohrs, sei völlig anders, als man nach Aufführungen des dreisätzigen Torsos mit nach Hause nehmen kann. Die 2012 publizierte Spielfassung, die Simon Rattle zur Wiener Erstaufführung führen wird, räumt jedenfalls mit der immer wieder tradierten Behauptung auf, der sanft verschwebende Schluss des Adagio-Satzes könnte ein adäquates Finale für die Neunte sein.
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Die »Nullte«
...entstanden nach der »Ersten«!
Die von Bruckner selbst stammende »Zählung« ist irreführend. Die letzten Arbeiten an der Partitur dieser d-Moll-Symphonie schloß der Komponist ab, als die offizielle Erste Symphonie längst vollendet war. Dennoch wollte er sie nicht gelten lassen. Erst 1924 erklang das Werk zum ersten Mal. Und doch enthält es viel vom liebgewordenen Bruckner-Klang und Bruckner-Stil.
Manche Passagen verraten sogar, warum der Komponist davon absah, das Werk zu numerieren: So sind Teile der Coda des ersten Satzes in ihrer Struktur nahezu deckungsgleich in der entsprechenden Passage der Dritten (in der selben Tonart) zu finden - nur, daß das prägnante Hauptthema hier noch fehlt.
Auch der Dritte Satz wirkt wie eine Vorahnung späterer Scherzo-Sätze und ist jedenfalls nah verwandt mit dem gleichzeitig entstandenen Parallel-Satz der Ersten. Im Finale vernimmt man - vor allem im Seitensatz - Töne, die Bruckners Herkunft von Schubert überdeutlich werden lassen.