Die frühen Symphonien
Italienische Prägungen
Jugendliche Kühnheit
Die ersten Symphonien Mozarts sind Früchte der großen Westreise. Schwester Nannerl notiert in ihren Erinnerungen, ihr Bruder hätte seine erste Symphonie in London komponiert. Der Vater sei damals krank darniedergelegen – was auf die Entstehungszeit Spätsommer 1764 schließen ließe. Da sich Maria Anna daran zu erinnern glaubt, das Werk sei für die festliche Besetzung „mit Trompeten und Pauken“ geschrieben, kann es sich allerdings nicht um die vermutlich früheste überlieferte Symphonie, Es-Dur (KV 16), handeln, denn diese ist lediglich für damals gängige Standardbesetzung mit Streichern, je zwei Oboen und Hörnern gesetzt. Mag sein, daß die Schwester sich an ein anderes, verschollenes Werk erinnerte. Daß es sich bei der im Köchelverzeichnis mit der Nummer 16 versehenen Sinfonia um den ersten erhaltenen Versuch des jungen Mozart mit der symphonischen Form handelt, dürfte indes sicher sein. Denn das Manuskript verrät die korrigierende Hand des Vaters sozusagen von Takt zu Takt. Die Herausgeber der Gesamtausgabe sprechen sogar von zwei Versionen: jener, die Wolfgang Amadé zu Papier gebracht hat und jener, die durch Leopolds massive Korrekturen entstand – und auch publiziert worden ist.Vorbild Johann Christian Bach
Ganz eindeutig ist die Vorbildfunktion des in London wirkenden Bach-Sohnes Johann Christian, dessen damals vielgespielte Symphonien op. III sich das kindliche Genie ebenso zum Vorbild nimmt wie die ähnlich gebauten Kompositionen von Bachs Londoner Kompagnon Karl Friedrich Abel (op. 7).Daß im langsamen Mittelsatz, der an Stelle einer veritablen Melodie ein von den Bässen rhythmisch gegliedertes Spiel mit Harmonien setzt, bald nach Beginn in den Hörnern jenes liturgische Credo-Motiv anklingt, das Mozart später nicht nur in Messen, sondern vor allem auch als Fugenthema seiner allerletzten, der sogenannten „Jupiter-Symphonie“ verwenden wird, ist oft kommentiert worden – und macht wohl auch wenig mystisch veranlagte Beobachter staunen.
Leopolds helfende Hand
Die folgenden Werke der Gattung, KV 19 in D-Dur, KV 19a in F-Dur, KV 22 in B-Dur und KV 43 in F-Dur, liegen uns in Partitur beziehungsweise Stimmensätzen von Leopold Mozarts Hand vor. Wie weit hier der Vater kompositorisch noch einzugreifen hat, um die formal durchwegs souverän gesetzten Stücke zu vervollkommnen, kann daher nicht gesagt werden. Sicher ist, daß die Inspiration Mozart immer wieder zu originellen Lösungen für die formalen Muster der damaligen Symphonieform führt. Wobei die Bestimmung der Werke durchaus vielfältig sein kann. Daß Symphonien vor andächtig lauschendem Publikum in Konzertsälen aufgeführt werden, ist eine Erfindung des XIX. Jahrhunderts. Zu Mozarts Zeit spielt man eine „Sinfonia“ in der Regel als Ouvertüre zu italienischen Opern. Von dorther kommt die in den italienischen Opernhäusern jener Jahre gebräuchliche dreisätzige Form mit zwei raschen Allegro-Sätzen, die ein gemäßigtes Andante oder Adagio umrahmen.Erstmals vier Sätze
Wobei die F-Dur-Symphonie KV 43, der sechsten uns überlieferten symphonischen Arbeit des jungen Mozart die erste seiner viersätzigen Symphonien ist. Als Mittelsatz findet sich hier ein Andante in C-Dur, das der Komponist seinem Schuldrama „Apollo und Hyazinth“ entlehnt hat. In der Oper ist es ein Duett, „Natus cadit, atque Deus“, gesungen von Oebalus und Melia. Mozart verwertet die zauberhafte Melodik dieses Zwiegesangs, befreit sich jedoch von den strukturellen Vorgaben, die ihm der Text suggeriert. Faszinierend zu beobachten, wie der Instinkt den Musiker zu strafferer, der Instrumentalform gemäßer Anlage führt.Die Linienführung des Duetts behält er in ihrer belkantesken Manier bei, modelliert sie jedoch konziser, musikalisch punktgenauer und kleidet sie durch Hinzufügung zweier Flötenstimmen in ein poetischeres Klanggewand. Das Gefühl für die Kunst der Instrumentation, der Auslotung feiner Nuancierungsmöglichkeiten der jeweils zur Verfügung stehenden Besetzung, die Mozart auf raffinierte Art beherrschen lernen wird, zeigt sich im Ansatz bereits hier. Das Klangbild dieses Satzes läßt jene zaube- rischen Stimmungen bereits ahnen, die der spätere Musikdramatiker mit seiner Kunst der Klangregie erzielen wird.
Der Dramatiker als Symphoniker
Den geborenen Dramatiker kann der junge Komponist auch in seinen Instrumentalwerken nicht verleugnen. KV 45 ist tatsächlich die Ouvertüre zur Komödie „La finta semplice“. Aber auch die nicht ans Theater gebundenen frühen symphonischen Arbeiten zeigen jene bunte, überquellende Phantasie im Erfinden plastischer, charakteristi- scher Motive und Themen, die seine Musik stets kennzeichnen wird.In der F-Dur-Symphonie (KV 19a) entwirft der Elfjährige ein veritables Komödienszenarium, läßt prägnante, sehr divergierende musikalische Gestalten aufeinanderprallen und entwickelt daraus in schon sehr persönlicher, durch den geradezu handgreiflichen Gang der Handlung bedingter Form das klassische Prinzip der später so genannten Sonaten- satzform: Exposition mit der Präsentation der Themen, Durchführung als dramatische Verarbeitung des Materials, Reprise: Wiederkehr der Themen in geläuterter, die Grundtonart bestätigender Weise.
Wobei es eine mozartsche Spezialität werden wird, daß – anders als etwa bei dem oft auf knappes Motivmaterial konzentrierten Joseph Haydn – in seinen Expositionen unzählige Einfälle aneinandergereiht erscheinen, von einer instinktsicheren musikalischen Rhetorik in ori- gineller Weise stets (sozusagen rückblickend) zu inneren Einheiten gebunden.
Auch die in den allerersten Symphonien oft nach Jagdmusiken klingenden Finalsätze mit ihren brisanten Signalthemen im Dreiertakt spitzen sich stets zu dramatischen Szenen zu, während die langsamen Sätze – allen voran der erwähnte Duett-Satz in KV 43 – enorme lyrische, empfindsame Qualitäten offenbaren. Viele der Kühnheiten, die der junge Mozart hier scheinbar naiv vor uns aus- breitet, begegnen uns in solcher Intensität und Unbekümmertheit später nur noch in Augenblicken außerordentlich verdichteter, expressiver Opernszenen.
Symphonik und Liturgie
Andererseits spielt man um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts Sympho- nien auch im liturgischen Zusammenhang. Das Es-Dur-Werk KV 132, komponiert 1772, könnte in diesem Sinne Verwendung gefunden haben, denn es enthält – wie hie und da auch symphonische Werke Haydns – eindeutig Elemente, die auf den geistlichen Kontext verweisen. Auf das festliche erste Allegro, das durchaus noch weltlichen Charakters ist, folgt ein Andante, dessen Beginn wieder das notengetreue Zitat eines gregorianischen Credo-Gesangs darstellt. Aus ihm wird die melodische Linie des Satzes entwickelt. In der Folge versteckt Mozart in diesem Andante noch ein weiteres Zitat, das populäre Weihnachtslied „Joseph, lieber Joseph mein“.Doch sogar die gar nicht tänzerische Faktur des folgenden Menuett-Satzes erweist seine liturgische Bestimmung spätestens, wenn im Trio erneut gregorianisch wirkende Melodiebildungen auftreten.
Nur das Finale fungiert wieder als prachtvoll extrovertierter Kehraus. Das Faktum, daß der Komponist ursprünglich ein anderes Andante für dieses Werk vorgesehen hatte, dieses dann durch den Credo-Satz ersetzte, läßt darauf schließen, daß hier eine Mehrfachverwertung vorliegen könnte – KV 132 mag weltliche und liturgische Funktion übernehmen, je nachdem mit welchem zweiten Satz man die Symphonie aufführt.
Die wilde »kleine g-Moll-Symphonie«
Ein Jahr nach diesem Werk reagiert Mozart auf die Eindrücke, die er anläßlich seiner dritten Reise nach Wien empfängt, mit einem gewaltigen künstlerischen Sprung in eine neue Klangwelt: Die Symphonie in g-Moll, KV 183, zeigt ihn beeindruckt von jenem im Fachjargon später Sturm- und-Drang-Stil genannten Tonfall, dessen sich die Wiener Komponisten, allen voran Joseph Haydn, in dieser Zeit bedienen.Es ist, nicht zu vergessen, die Ära von Goethes „Werther“, der 1774 publiziert wird und den Nerv einer Generation trifft, die sich mit höchst empfindsamen, sensiblen musikalischen Schöpfungen von allen glatten, formal gebändigten Traditionen freizuspielen weiß. Hier singt, ganz ungeniert, ein Subjekt von seiner inneren Befindlichkeit. Ein Schritt in die Richtung der romantischen Kunstauffassung ist getan, die – nur scheinbar paradox – zu einer Verdichtung der formalen Beherrschung führt: Architektonik und Ausdruckskunst verschmelzen zur wahrhaft „klassischen“ Einheit.