Streichquartette
Die frühen Quartette
Ein Wirtshaus in Lodi, am 15. März 1779, um sieben Uhr abends – Mozarts eigene Datierung verrät uns, wo er sein erstes Streichquartett, G-Dur (KV 80), niedergeschrieben hat. Während der Italienreise, auf der Fahrt von Mailand nach Bologna, erprobt sich der junge Komponist, stolz im Besitze der Einladung zur Komposition der Karnevalsoper in Mailand, in einer Gattung, zu deren späterer Sonderstellung er selbst noch eminente Beiträge leisten wird.
Als Mozart zur Welt kommt, ist das Streichquartett, das spätestens seit Beethoven als Kerngebiet der Kompositionskunst gelten wird, noch gar keine spezielle Gattung. Doch schreiben manche Zeitgenossen Werke für die später kanonisierte Besetzung mit zwei Geigen, Bratsche und Violoncello.
Mozart hat solche Stücke bei den Kammermusikabenden des Mailänder Doyens unter den Komponisten, Giovanni Battista Sammartini, kennengelernt. Die Fahrtstunden nutzt er offenbar dazu, in dem für ihn neuen Genre firm zu werden.
Zwar verrät KV 80 noch ganz und gar den Einfluß des damaligen italienischen Sonatenstils. Von der späteren dialogischen Struktur, die alle vier Stimmen des Ensembles emanzipiert, ist man noch meilenweit entfernt. Doch hat Mozart seinen Quartett-Erstling gern. Er nimmt ihn noch sechs Jahre später, als aus Sicht der Nachfahren viel bedeutendere Kompositionen aus seiner Feder vorliegen, auf die ParisrZeise mit und läßt ihn für einen Mannheimer Kenner kopieren.
Italienische Sonaten und Symphonien, auch der Stil der Opera seria, spielen noch in die Quartett-Kompositionen der folgenden Jahre hinein. Die später so genannten Divertimenti (KV 136–138) fordern von ihrem theatralischen Aplomb her die große Streicherbesetzung geradezu heraus, in der sie traditionsgemäß auch aufgeführt werden, sind jedoch durchaus glaubwürdig auch in die Reihe der Streichquartette einzuordnen.
Italianità klingt uns auch aus der Serie der sogenannten „Mailänder Quartette“ entgegen (KV 155–160), die Mozart im Gefolge der Aufführung seiner zweiten Mailänder Karnevalsoper, „Lucio Silla“, im Frühjahr 1773 schreibt, doch zeigt sich
hier bereits in vielen Momenten der Ehrgeiz des Komponisten, Möglichkeiten zu nutzen, die vier unabhängig geführte Stimmen ihm bieten. Mehr und mehr nehmen auch Bratsche und Violoncello am thematischen Entwicklungsprozeßteil, mischen sich selbstbewußt in den musikalischen Dialog.
Auffällig auch die Bedeutung, die der Komponist den langsamen Sätzen zumißt. Vier der sechs Andantebeziehungsweise Adagio-Sätze stehen in Moll. Und es sind oft hochexpressive melodische Botschaften, die Mozart da aussendet.
Vor allem die Mittelsätze der Quartette KV 156 und 158, in e-Moll beziehungsweise a-Moll, exponieren den Meisterbilder, diesfalls melancholischer, ja klagender Natur. Die emotionale Bandbreite von Mozarts Ausdruckskraft ist jedenfalls enorm. Das zeigt sich nicht nur in den einfühlsam gestalteten Charakterbildern seiner Opernarien, sondern auch in diesen instrumentalen Gegenstücken.
Einen Sonderfall bildet das B-Dur-Quartett (KV 159), das mit einem Andante beginnt und vor dem ausklingenden Allegretto grazioso ein hochexpressives Allegro in g-Moll als Mittelsatz bringt, Vorgeschmack auf spätere unheimliche Stirnsätze von g-Moll-Kompositionen, voran der Symphonien KV 183 und 550 oder des Streichquintetts KV 516; fast meint man, Mozart hätte es nicht gewagt, ein g-Moll-Streichquartett zu schreiben, das mit diesem Satz hätte beginnen müssen. Der Gedanke, solche Sprengung aller Gebrauchsregeln wäre auf Unverständnis gestoßen, ist nicht allzuweit hergeholt: Vater Leopold kommentiert die kühne, heute so genannte „kleine g-Moll-Symphonie“ recht skeptisch.
Daß Mozart in Italien einen Zyklus von sechs Quartetten komponiert, erklärt sich aus der damaligen Verlagspraxis, die in der Regel Sechserserien gleichartiger Stücke publiziert. Auch in Wien im folgenden Jahr, 1773, sind es sechs Streichquartette, die als Serie entstehen – vielleicht versucht Leopold, Werke seines Sohns auf diese Weise Verlegern schmackhaft zu machen. Doch finden auch die „Wiener Quartette“ (KV 168–173) keinen Abnehmer. Sie sind im Gegensatz zu der Mailänder Werkfolge sämtlich viersätzig angelegt, enthalten bereits die später in der symphonischen Form kanonisierten Menuette.
Die neue Reihe ist deutlich von Joseph Haydns Quartettserien op. 17 und 20 beeinflußt, in denen der galante Zeitstil rücksichtslos in subjektiv-empfindsame Ausdrucksbereiche aufgebrochen wird. Die kontrapunktischen Kunstfertigkeiten, die Haydn in den Dienst des unbedingten Espressivo stellt, finden sich in den Werken des 17jährigen Mozart bis hin zum Zitat widergespiegelt. Wie Haydn schreibt auch der getreue Adlatus Finalsätze in Fugenform (KV 168 und 173) und nimmt andererseits in den langsamen Sätzen den sogenannten „Serenadenstil“ Haydns auf, der dem Primgeiger fast nach Art einer Gesangszene die Führung überläßt, während die anderen Instrumente schlicht begleiten. Das „poco Adagio“ aus KV 170 klingt mit seinen gezupften Begleitstimmen beinah wie ein von einer Laute oder Gitarre begleitetes Ständchen; das schlichte Modell wird in KV 169 durch die dramaturgische Entwicklung und eine jählings sich verfinsternde Stimmung allerdings effektvoll konterkariert.
Und mit KV 173 wagt sich der Komponist – väterliche Proteste hin oder her – erstmals an eine Haupttonart in Moll, hängt an das strenge, zuweilen trotzig wirkende Stück zuletzt aber eine versöhnliche Dur-Coda. Sie wirkt geradezu aufgesetzt, als sollte dem Zeitgeschmack ein Schnippchen geschlagen werden, indem man ihm eine übertrieben wirkende Reverenz erweist.
Acht Jahre werden danach vergehen, bis Mozart sich erneut dem Streichquartett zuwendet. Wieder wird dann Joseph Haydn Pate stehen . . .
Quartette der Wiener Zeit
Diesem Ziel ist der Komponist bereits mit den großen Streichquartetten der ersten Wiener Jahre nahe gekommen. Hier ging freilich wieder die Anregung von Joseph Haydn aus: Mozart hatte bereits seine Streichquartett-Serie von 1773 nach dem Vorbild der Haydnschen Quartette op. 17 und op. 20 gestaltet. Nun nimmt er sich ein Beispiel an der zehn Jahre später publizierten Sammlung der „Russischen Quartette“ op. 33 des älteren und berühmteren Kollegen.
Im Verlag Artaria erscheinen 1785 die sechs heute so genannten „Haydn-Quartette“, die Mozart dem Vorbild mit den Worten „Al mio caro amico“ widmet. Haydn war von Aufführungen der ihm zugeeigneten Stücke begeistert. In einem Brief an Leopold Mozart bekennt er: „Ich sage ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und dem Nahmen nach kenne: er hat geschmack, und über das die größte Compositionswissenschaft.“
»Lächelnder Kontrapunkt« in G-Dur
Vor allem übernimmt er den Esprit jener „neuen und besonderen Art“ der Kompositionstechnik, die Haydn für seinen Zyklus im Vorwort beansprucht. Auch Mozarts Quartette sind von ungemein geschmeidiger Faktur, beweglich in allen vier Stimmen, die völlig unabhängig voneinander, doch in unvergleichlicher Harmonie geführt sind.
Das Beispiel des Finalsatzes des ersten, im Dezember 1782 komponierten G-Dur-Werks (KV 387) ist symptomatisch für die Freiheit, die Mozart handwerklich erreicht hat. Hie strenge kontrapunktische Arbeit in den Fugeneinsätzen, da lichte, transparente, ja komödiantische Freiheit in den homophonen Verbindungsteilen, scheinbar Unvereinbares verschmilzt da unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Sonatenform zum harmonischen Ganzen.
Unter der anscheinend perfekt geglätteten Oberfläche finden sich von Satz zu Satz die kühnsten, ungeheuerlichsten Erfindungen und Freizügigkeiten. Man nehme nur die rhythmisch-metrischen Verwirrspiele, die in allen sechs Werken mit der Menuett-Form getrieben werden. Wer dazu den alten höfischen Tanz tanzen wollte, müßte kläglich scheitern. Hier zeigt sich der hintergründige Humor Mozarts ungeschminkt, nicht zuletzt, wenn er auf die schroffe d-Moll-Welt im Menuett von KV 421 mit Unschuldsmiene eines der charmantesten Serenadenstücklein als Trio folgen läßt.
Dissonanzen in C-Dur
Am meisten kommentiert wird bis heute das letzte der Mozartschen Haydn-Quartette, dessen kühne, von harmonischen Abenteuern geprägte Einleitung dem Werk den Namen „Dissonanzenquartett“ eingetragen hat. Auch hier verleugnet Mozart das Vorbild nicht: Wie Haydn im ersten seiner „Russischen Quartette“ die Tonart h-Moll nur über Umwege zu erreichen scheint, verschleiert er hier das C-Dur mit aberwitzigen harmonischen Verschachtelungen. Daß die Wissenschaft diese später – im Windschatten von Richard Wagners „Tristan“-Chromatik – als durchaus auf dem Boden der klassischen Funktionsharmonik deuten wird, ändert nichts an der schockierenden Wirkung, die diese Musik auf die Zeitgenossen hat, ja haben muß: Einem Zeugnis des frühen Biographen Nissen zufolge, hätten italienische Interessenten dem Verleger die Noten zurückgeschickt, „weil der Stich so fehlerhaft“ wäre. Ein ungarischer Magnat, der seinen Musikern zunächst zugerufen habe: „Sie spielen nicht recht“, soll die Stimmen aus Ärger über die Kühnheiten sogar zerrissen haben.
Zuweilen findet der wagemutige Komponist in seinem so aufregend vielgestaltigen Werkzyklus Gelegenheit, seine souveräne Formbeherrschung für außermusikalische Zeichensetzung zu nutzen.
Geburtswehen in d-Moll
Glaubt man Constanzes Erinnerungen, dann entstand das d-Moll-Quartett (KV 421) in jener Zeit, als sie den Sohn Raimund Leopold – er wurde nur zwei Monate alt – zur Welt brachte. Wieviel von ihren Schmerzen tatsächlich Widerhall in der Musik gefunden hat, ist vielleicht weniger bedeutend als die Tatsache, daß Mozart hier offenkundig extrem subjektive, extrem bewegende Botschaften in Tönen verschlüsselt. Wie anregend dergleichen für die Phantasie war und ist, erweist die Anfang des 19. Jahrhunderts erschienene Analyse des Stirnsatzes dieses Streichquartetts, die der Mozart-Zeitgenosse Jérome-Joseph de Momigny publizierte: Er bearbeitet im Anhang seiner 144 Seiten umfassenden Studie die Musik für zwei Singstimmen und Klavier – und unterlegt ihr einen selbstgedichteten Dialog zwischen Dido und Aeneas. Von den Assoziationsmustern, die zum Adagio affettuoso aus Beethovens op. 18/1 Shakespeares Romeo und Julia sterben lassen, trennen uns tatsächlich nur ein paar Jahre . . .