Semele

1743

Mit dem Zusammenbruch seiner dritten großen Opern-Unternehmung in London hatte der Komponist endgültig die Lust am Musiktheater verloren. Die mit Esther begonnene Erfolgsserie der Oratorien brachte ihm in der Folge die bedeutendste Anerkennung. Auch hohe Geldsummen konnten ihn nicht mehr überzeugen, sich wieder inszenierten Musiktheater-Projekten zuzuwenden. Im Sommer 1743 hat der Earl of Middlesex den Achtundfünfzigjährigen noch zu überreden versucht, indem er ihm die immense Summe von 1.000 Pfund für zwei neue Opern bot. Doch Händel, der zunächst willig schien, wies letzendlich unhöflicherweise sogar die ausdrückliche Bitte des Prince of Wales zurück und lud stattdessen zu einer Serie von privat veranstalteten Fasten-Konzerten: Zwölf Abonnement-Konzerte am Covent Garden brachten unter anderem die Uraufführung von Semele, die viele Kommentatoren als Oper im Oratorien-Gewand bezeichnet haben - und die in der Folge der Barock-Renaissance im XX. Jahrhundert auch erfolgreich szenisch gezeigt wurde. Semele basiert auf einem altenglischen Opernlibretto von William Congreve (1670–1729)

Die Daten auf Händels Manuskript verraten die Geschwindigkeit des Schaffensprozesses: Der am 3. Juni 1743 begonnene Erste Akt war am 13. Juni vollendet. In weiteren zehn Tagen entstand bis 20. Juni der Mittelakt. Am 4. Juli lag die gesamte Partitur vor. 32 Tage in Summe für eines der Meisterwerke barocker Musikdramatik.

Congreves Text war bereits in der Absicht entstanden, eine englischsprachige Operntradition zu begründen. Im Vorwort zu seiner theatralischen Adaption einer Passage aus den Metamorphosen des Ovid faßte der Dichter die Handlung in eigenen Worten zusammen:
Nach seiner amourösen Affaire mit Europa, der Tochter Agenors, des Königs von Phönizien, erzürnte Jupiter seine Gemahlin Juno noch einmal, indem er erotische Bande zur selben Familie knüpfte: Semele, die Nichte Europas und Tochter des König von Theben, Kadmos, war gerade im Begriffe Athamas zu ehelichen. Gerade als dieser Bund im Tempel Junos, der Göttin der Ehe, feierlich geschlossen werden sollte, unterbrach Jupiter durch göttliche Zeichen die Zeremonie. Er entführte die Braut und Juno mußte nach einigen mißlungenen Versuchen die Gestalt und die Stimme Inos annehmen, Semeles Schwester. In dieser Verkleidung gelang es Juno, Semele zu überreden, eine verhängnisvolle Bitte an Jupiter zu richten, deren Erfüllung ihren Untergang heraufbeschwören mußte.
Händel war nicht der erste, der Congreves Text vertonte. John Eccles (1668 - 1735) hat als erster eine Oper Semele komponiert, die allerdings zu spät fertig geworden war, als daß Congreve sie, wie geplant, zur Einweihung seines aufwendigen Opern-Projekts im Queen's Theatra herausbringen hätte können. Der Versuch des Intendanten des Drury Lane Theatres, Eccles' Semele zur Uraufführung zu bringen, scheiterte am Vorgänger-Projekt: Die Produktion von Addisons Rosamunde war 1707 so kläglich gescheitert, daß an einen weiteren englischsprachige Opern-Versuch nicht zu denken war.

Eccles zog sich frustriert zurück. Er soll den Rest seines Lebens mit dem Angeln zugebracht haben...

Inzwischen war Congreves Text aber in Druck erschienen. Für ein abendfüllendes Werk war er zu kurz, sodaß Händel für seine Adaption einige Zusätze - teils aus anderen Werken Congreves - anbrachte. Für eine der nachmals berühmtesten Nummern des Werks, Jupiters Arie »Where’er you walk«, stammt der Text aus Alexander Popes Pastorale Summer.

Im übrigen fand Händel alles vor, was er für ein blutvolles Drama benötigte, Erotik, Leidenschaft, Esprit, Koketterie, Sensibilität, Exaltiertheit, Trübsal - seine Lust an der musikalischen Charakterisierung seelischer Vorgänge und Verwandlungen tobt er wie nie zuvor - und auch nie wieder nachher - nicht nur in Arien aus, sondern auch in etlichen Accompagnato-Rezitativen, in denen die Handlung vom ganzen Orchester begleitet, kommentiert und vorangetrieben wird. In diesem Sinne ist Semele eine der modernsten, vielschichtigsten Partituren des Komponisten.

Die unverhohlenen erotischen Anspielungen, die in »Endless Pleasure« einen auch Jahrhunderte später noch verblüffend freizügigen Höhepunkt erreichen, haben manche Zeitgenossen schockiert. Charles Jennens, Librettist von Händels Oratorien Saul und Messias fand Semele äußerst »schlüpfrig« und weigerte sich, die Wiederaufnahme der Produktion 1744 zu besuchen.

↑DA CAPO