→ Würdigung, 1992   
  

London im Solti-Fieber

Ein Achtzigjähriger feiert sich selbst

Das Programm für den großen alten Mann war staunenerregend und hätte wohl manchen jüngeren Kollegen überfordert.
Eine Feier im Buckingham Palast, ein abendlicher Empfang beim Premierminister, eine ausgiebige Party der Schallplattenfirma, zwischendurch noch Proben und Aufführungen für den Jubiläums-Othello in Covent Garden -London ist dieser Tage im Solti-Fieber, Sir Georg genießt das sichtlich und wird nicht müde, Hände zu schütteln und gute Laune zu verbreiten.

Voller Terminkalender

»Eigentlich«, verkündete er nach den Geburtstags-Ansprachen im fashionablen Hyde Park Hotel, »müssen sie nicht mir gratulieren, sondern der Firma Decca, die dieses wunderbare Fest arrangiert hat«; um nach dem prompt einsetzenden Applaus noch zuzusetzen: »Ich meine natürlich dazu, daß sie mich unter Vertrag hat.«

Tatsächlich sieht der Terminkalender des Achtzigjährigen zahlreiche Aufnahmesitzungen mit seinen Lieblingsorchestern aus London und Chicago vor - bis zum Jahr 1997 ist man sich da schon einig. Die Wiener Philharmoniker, eine Zeit lang eines der wichtigsten Orchester des Schallplatten-Millionärs, scheinen auf der Liste kaum auf, zumindest hört man in London davon nichts.

Die Vertreter des Wiener Meisterorchesters blieben den Feiern auch fern. Das wurde in England immerhin bemerkt. Zumal eine Abordnung des Wiener Staatsopernchors erschienen war, um Sir Georg die Clemens-Krauss-Medaille in Gold zu überreichen, die höchste Auszeichnung, die diese Musiker zu vergeben haben.

So war Wien doch auch auf dem Podium präsent, um dem - wie die Werbung versichert - »meist gefeierten Dirigenten unserer Zeit« offiziell zu gratulieren.

Schon am Abend zuvor ließ man Solti auf der Bühne von Covent Garden, jenem Haus, dem er ein Jahrzehnt lang als musikalischer Leiter vorstand und das er zu höchstem Niveau führte, hochleben. Nach einem fulminanten, in typischer Solti-Manier nie überdrehten, überzeichneten, dennoch aber unter die Haut gehenden Othello mit einem Placido Domingo in Bestform und der berückend schön singenden Kiri Te Kanawa erschienen noch Birgit Nilsson und Hans Hotter, um Solti den Tristan-Kelch und den Ring des Nibelungen zu überreichen. All dies geschah in zwanglosester Atmosphäre, versehen mit manch launigem verbalen Aper,cu, und selbstverständlich gekrönt durch einen von der Nilsson angeführten »Happy Birthday«-Gesang des gesamten Publikums von sympathisch dissonierender Herzlichkeit.

Die Energie, mit der Solti heute noch ungebremst Verdi dirigiert, hatte zuvor für ungläubiges Staunen gesorgt. Das Covent Garden Orchestra wuchs über sich selbst hinaus und sorgte für knisternde Spannung. Bei alledem war noch ein neuer Jago zu entdecken: Sergei Leiferkus, ein auch in Wien nicht mehr unbekannter russischer Baßbariton, der die grausame Partie mit lächelndem Zynismus in Miene und Stimme zu einem Erlebnis werden ließ.

Sir Georg war's, so schien es wenigstens, zufrieden. »Ich komme wieder«, versicherte er seinen Verehrern lachend, um anderntags zum Gaudium sämtlicher Festgäste und der diversen Fernsehteams das Fahrrad zu besteigen, das ihm von seiner Plattenfirma zum Geschenk gemacht wurde. Solti, der Unermüdliche, treibt nach wie vor begeistert Sport - bis zur Erschöpfung seiner meist erheblich jüngeren Gäste und Künstlerkollegen, die bei Besuchen im italienischen Feriendomizil des Maestro eifrig mithalten müssen.

Wer den Dirigenten in diesen umtriebigen Londoner Festestagen erlebt hat, weiß: Solti hat nicht vor, eine beschauliche Zeit zu verbringen und sich vom anstrengenden musikalischen »Business« zurückzuziehen.

Der Feldmarschall ist 80


Dem Dirigenten Sir Georg Solti zum Geburtstag

Gefeiert wird selbstverständlich in London. Selbstverständlich? Ein ungarischer Künstler, lange Zeit geradezu aus Überzeugung »deutscher« Dirigent, langjähriger Chef eines der ganz großen amerikanischen Orchester, Nachfolger Karajans als künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele - Sir Georg Solti, sein Adelsprädikat vergißt man nicht von ungefähr selten, wenn es darum geht, seinen Namen zu nennen, scheint er doch trotz allem in der britischen Hauptstadt daheim, als könnte es nicht anders sein.

Wenn er am Freitag abend in Covent Garden den Taktstock hebt, um sich Verdis Othello selbst zum Achtziger zu schenken - mit Kiri Te Kanawa und Placido Domingo auf der Bühne - dann tut er das eingedenk seiner Leistungen, mit denen er in den sechziger Jahren auf die ihm eigene impulsive, unnachgiebige, konsequente Weise aus Englands erstem Haus ein tatsächlich erstes Haus gemacht hat. Das hat man an der Themse nicht vergessen.

Wie auch Chicago nicht vergessen wird, daß der energische Mann dafür Sorge trug, seinem Symphony Orchestra über die Jahre hin die höchste Qualität zu erhalten. Wenn heute behauptet werden darf, daß die Legende von den »Big Five«, den fünf wirklich großen amerikanischen Klangkörpern, längst obsolet geworden ist, darf Chicago auf seine Spitzenposition beharren. Solti sei Dank.


Gewiß wird man es auch in Deutschland, wo der Maestro gleich nach dem Krieg zuerst in München, dann in Frankfurt Furore gemacht - und unschätzbare Aufbauarbeit geleistet - hat, nicht an Ehrungen fehlen lassen.


Hierzulande liegen die Dinge freilich komplizierter. Der Name Solti war lange Jahre mit dem Paradoxon verknüpft, demnach sein Träger wohl im Plattenstudio einer der wichtigsten Dirigenten für die Wiener Philharmoniker war, im Konzert- und Opernleben des Landes jedoch stets ein Gast geblieben ist.
Selbst die Zeit, in der - was ganz logisch wirkte -Solti als Nachfolger Karajans bei den Festspielen in Salzburg annonciert werden konnte, geht zu Ende.
Großtaten wie der denkwürdigen (ungekürzten) Frau ohne Schatten zum Trotz. Weil wohl auch in Salzburg die Karten für die Intrigenpatience keineswegs nach qualitativen Kriterien gemischt und abgehoben werden.


Es bleibt schon dabei: Sir Georg Solti, der mit unseren Philharmonikern einige Meilensteine der Schallplattengeschichte erarbeitet hat, wird die Jubiläums-Wünsche seiner österreichischen Verehrer - und wohl auch die Verleihung der Clemens-Krauss-Medaille durch den Staatsopernchor - mit charmant diplomatischem Lächeln quittieren. Gefeiert wird der Feldmarschall der internationalen Dirigentenschaft in London. Damit müssen wir uns abfinden.

↑ DA CAPO