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Dieser Frau fehlt mehr als ein Schatten

Richard-Strauss-Premiere in Salzburg

Osterfestspiele 1992

Es hätte ein Großereignis werden können und nahm doch nur die Dimensionen eines gigantischen Fragments an. Sir Georg Solti dirigierte bei seinen Osterfestspielen in Salzburg Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss' größtes Werk, die "Frau ohne Schatten". Und er tat, was keiner vor ihm je gewagt hatte, er öffnete alle Striche, um alles, alles hören zu können, was in dieser buntesten aller Opernpartituren geschrieben steht. Damit wäre ihm ein Coup geglückt, hätte ihm nicht ein Bühnenbildnerteam mit geballter Phantasielosigkeit einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Neue Dimensionen hat das Werk freilich angenommen. Es hat auch, weil alle Kürzungen weggefallen sind, einen neuen Mittelpunkt: Die Amme, sonst Stichwortbringerin, verwandelt sich zur eigentlichen Regisseuse des Menschwerdungsdramas. Zur Regisseuse wider Willen. Denn Marjana Lipoveks stimmliche wie optische Charakterisierungskunst macht deutlich, mit welch mütterlich-kritikloser Liebe dieses Zwitterwesen zwischen Geister-und Menschenwelt an der ihr anvertrauten Kaiserin hängt. Deren Schicksal, deren Wille treibt die Amme in immer gefährlichere Bereiche, zwingt sie zu aberwitzigem Gaukelspiel, zwingt sie, sich in immer haltlosere Widersprüche zu verstricken. Rücksichtslos, zynisch, sadistisch opfert sie ihrem obersten Interesse Menschenschicksale, fällt dieser, ihrer Hörigkeit aber zuletzt selbst zum Opfer: An den unmenschlichen Vergehen der Amme wächst der Entschluß der Kaiserin, auf allen Egoismus zu verzichten und den erlösenden, nur für die Amme tödlichen Verzicht zu leisten.

Die Lipvoek gestaltet dieses Schicksal mit aufsehenerregender Hingabe, unerhört differenziert in Geste und Stimme, unterstützt von einem Orchester, das von Georg Soltis Liebe zum Detail zu einer grandiosen Leistung geführt wird. Die Berliner Philharmoniker, der "Frau ohne Schatten" gänzlich ungewohnt, also auch nicht von anderen Maestri "vorgebildet", realisieren Soltis Interpretation dementsprechend auch ohne bewußten oder unterbewußten Widerspruch: präzis, transparent bis in die kleinste Nuance. Nicht immer mit dem bei diesem Stück gewohnten großen Atem, dafür mit einer prägnanten, bald aggressiven, bald ganz zart besaiteten Detailzeichnung, die jede Bewegung auf der Szene, jeden Gedankengang, jede seelische Regung unmittelbar Klang werden läßt.

Vor allem die kammermusikalischen Partien, die zarten, poetischen Momente gelingen Solti und den Berlinern stimmungsvoll. Der Beginn der Falknerhausszene wird so zum großen, herrlichen Ruhepunkt im Geschehen. Thomas Moser als Kaiser, jeder Zoll kein Held, aber ein kultiviert phrasierender Tenor, kann sich dank Soltis alles in subtiles Pianissimo verwandelnder Rücksichtnahme dort ganz seinem Schöngesang widmen.

Seinem menschlichen Widerpart Robert Hale nützt solche Unterstützung nicht immer. Der sympathische Bariton ist den Anforderungen, gebildet aus den Dimensionen der Partie des Barak und den Dimensionen des Salzburger Festspielhauses, nicht durchaus gewachsen.

Die jeweiligen Partnerinnen haben es dank ihrer künstlerischen Potenz einfacher. Zu leicht macht es sich vielleicht Eva Marton, die weiß, daß man sich außer ihr heute kaum eine andere Färberin wünscht. Neben vielen herrlichen Passagen gönnt sie sich auch manche Schlamperei gegenüber Strauss' Notentext; und nicht immer sind ihre enormen stimmlichen Mittel überwältigend genug, um darüber hinwegzutüschen.

Cheryl Studer ist die Kaiserin, faszinierend jungstimmig und koloraturgewandt im unschuldigen ersten Auftritt, packend in der dramatischen Umsetzung der Traumeswirren im Mittelakt und nur eine Spur zu wenig reich an stimmlicher "Erlebnisfähigkeit" für den entscheidenden Wandel im Finale.

Beinahe ohne Ausnahme ideal sind die kleineren Partien besetzt, von Bryn Terfels herrischem, sonor tönenden Geisterboten bis zur irisierend verführerischen Koloraturversuchung für die Kaiserin im Tempebild, Elizabeth Norberg-Schulz.

Daß dieser "Frau" mehr fehlt als ein Schatten, haben somit nur die Bühnenbildner Rolf und Marianne Glittenberg zu verantworten, denen die vielleicht teuerste Kaschierungsaktion mangelnder Ausstatterphantasie gelungen ist, die in Salzburg je zu verzeichnen war. Das will etwas heißen und soll hier auch gar nicht weiter kommentiert werden.

Regisseur Götz Friedrich war in seiner prägnanten und den musikalischen Analysen oft durchaus ebenbürtigen Personenführung durch das fahle, ausdruckslose Kunsthandwerk der Glittenbergs arg behindert. Könnte man die Dekorationen auswechseln, wäre den Sommerfestspielen, die die "Frau ohne Schatten" übernehmen, ein künstlerischer Triumph sicher. So haben sie einen musikalischen Erfolg in der Tasche, der am Beginn einer neuen Ära für eine der größten Opern der Musikgeschichte steht. Solches kann selten behauptet werden. Immerhin. Darüber soll wohl keiner mehr nachdenken, zu welchen künstlerischen Höhen sich diese wichtige Premiere hätte aufschwingen können...


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↑ DA CAPO