Der Grandseigneur wird ein Wiener

22. April 1996
Sir Georg Solti hat sich verändert. Er ist, ahnte man im jüngsten Philharmonischen, drauf und dran, musikalisch ein echter Wiener zu werden.

Georg Solti war jahrzehntelang der Inbegriff des strengen Maestro, der sogar amerikanische Orchester zur Räson bringen kann, weil er mit militärischer Klarheit agiert. Vom typisch wienerisch-weichen, sinnlichen Musizieren war er weiter entfernt als die meisten Kollegen.

Jenseits der Achtzig ist Solti ruhiger geworden und macht, was die Philharmoniker ästimieren: Er läßt, wie man das hierzulande nennt, »einfach spielen«.

Nicht, daß er keine Gelegenheit suchte, gestalterisch einzugreifen. Nur läßt er jetzt manche verstreichen.

Das tut gut.

Alle Variationen, die diesmal auf dem Programm standen, klangen zwar deutlich nach Solti, aber auch durch und durch philharmonisch. Wer in Wien aufgewachsen ist, weiß, daß erst dann, wenn dieses scheinbare Paradoxon eintritt, "richtig" Musik gemacht wird.

Wenn Solti heute erscheint, stellen ihm die Philharmoniker, sozusagen ohne Vorgabe, den schönsten Klang zur Verfügung, dessen sie fähig sind.

(Den schönste der Welt also.)

Die Ehre wird nur großen alten Herren zuteil. Solti nützt sie weidlich: Es gibt Passagen - darunter auch technisch wirklich besonders heikle in Boris Blachers Paganini-Variationen -, da verläßt er sich ganz auf das »innerbetriebliche« Organisationsvermögen des Orchesters.

Dann wieder gibt er kräftige Impulse, auch dort, wo sie vielleicht in den Proben gar nicht abgemacht wurden - und die Musiker reagieren biegsam und virtuos.

All das bindet sich zum rund und herrlich in sich geschlossenen Ganzen.

Und es bedarf, scheint's, keiner sonderlichen Kraftanstrengung. entsteht ganz natürlich.

Brahms' Haydn-Variationen und die über das »Pfauenlied« von Zoltan Kodaly wurden so zum schönen Vormittags-Erlebnis. In den Enigma-Variationen Edward Elgars verdichtete sich das Geschehen zuletzt sogar zu bedrohlichem, dann tief bewegenden Espressivo. Jeder Solist, der Gelegenheit erhielt, - da waren diesmal beinahe alle Gruppen begünstigt - brillierte, ohne Kollegen »auszustechen«. Solcher Geist weht auch im Musikverein nicht jeden philharmonischen Sonntag.

↑DA CAPO