Lorin Maazel im Gespräch

im Gespräch im Sommer 1992

"Wer nicht alles mit dem Taktstock sagen kann, der soll nicht dirigieren"

Maestro, Sie haben vor wenigen Tagen im Salzburger Festspielhaus mit "Elektra" von Richard Strauss einen Triumph am Pult der Wiener Philharmoniker gefeiert. Wie ist ihre Beziehung zu diesem Orchester heute?

LORIN MAAZEL: Wunderbar! Sie war es eigentlich immer. Mit dem Wiener Orchester gab es nie Probleme. Ich blicke ja mittlerweile auf beinahe vier Jahrzehnte der Zusammenarbeit zurück. Ich erinnere mich noch genau, wie das war, als wir in Wien im Schallplattenstudio die Sibelius-Symphonien aufgenommen haben. Neben den Symphonien von Tschaikowsky war das unser erstes großes gemeinsames Schallplatten-Projekt.
Damals war Sibelius in Österreich kein besonders beliebter Komponist. Anders als in englischsprachigen Ländern hat man hier und in Deutschland nach wie vor keinen ungetrübten Zugang zu dieser Musik.
Die Musiker waren damals, das weiß ich noch genau, sehr unruhig während der Arbeit. Als ich dann ziemlich ungehalten dazwischengefahren bin, um Ruhe einzufordern, blieb es für eine halbe Stunde still. Eisig still. Dann kam ein Moment, wo eine kleine Unklarheit zu besprechen war. Ich wandte mich an einen der Bläser. Und man hat gespürt, wie die Spannung bei allen stieg: Was wird er jetzt antworten? Er sagte: Sehen Sie, vielleicht ist es doch besser, wenn wir ein bißchen miteinander plaudern. Alle haben gelacht. Seither hat es nie wieder ein Problem gegeben.

Wissen Sie noch ungefähr, wie oft sie mit den Philharmonikern zusammengearbeitet haben?

Ein Mitarbeiter hat unlängst eine Statistik gemacht und unglaubliche Zahlen zutage gefördert: Wir haben an die 500 Konzerte mit ungefähr 130 verschiedenen Programmen miteinander gegeben. In Wien, in Salzburg und auf Tournee in der ganzen Welt.

Auf Tournee haben Sie ja paradoxerweise auch die "Elektra" das erstemal mit den Wienern aufgeführt.
Ja, das war in New York vor fünf Jahren. Eine "semistaged Production" in der Carnegie Hall, die ein ungeheurer Erfolg war.

Die Salzburger Aufführung wurde von allen Kritikern als besonders durchsichtig, besonders akkurat gearbeitet gelobt. Wieviele Proben benötigt man für eine solche Leistung?
Wir haben eine große Orchesterprobe Ende der Saison in Wien absolviert. Dann waren die Philharmoniker auf Urlaub. Jetzt haben wir uns in der Woche vor der Premiere wieder getroffen und noch zwei Orchesterproben gemacht, dann zwei sogenannte Sitzproben - also ohne Regie - mit den Sängern, und die zwei Hauptproben mit der Bühne.
Aber das waren eigentlich zwei Orchester. Das Premierenorchester, das die ersten drei Vorstellungen spielt, hat nur die Orchesterproben und die Bühnenproben gespielt. Ein zweites Orchester, das dann ab 15. August eingesetzt wird, hat die Sitzproben gemacht.

Das heißt also, daß Sie mit jenen Musikern, die bei der sensationellen Premiere aufgespielt haben, nur insgesamt vier Proben absolviert haben. Wie kann man in der kurzen Zeit ein Werk so gründlich neu einstudieren? Es klang wie neu.

Da kommen verschiedene Dinge zusammen. Vor allem muß man natürlich sagen: Die Wiener Philharmoniker kennen dieses Stück sehr gut. Es steht in Wien immer auf dem Programm.

Ist das nicht auch ein Nachteil?

Sie haben recht, es ist auch ein Nachteil, wenn man es so betrachtet, daß gewisse Fehler, gewisse Nachlässigkeiten sich eingebürgert haben. Andererseits aber kann man mit der Probenarbeit auf einem ganz anderen Niveau beginnen als mit einem Orchester, das ein Stück nicht kennt. Und dann ist natürlich die Frage, wieviel ein Dirigent handwerklich kann.
In Wahrheit ist es so, daß er mit dem Taktstock alles ausdrücken muß. Wer das nicht kann, der sollte lieber gar nicht dirigieren. In dieser Partitur ist es zum Beispiel wichtig, alle Vorschriften bezüglich der Lautstärke genau zu beachten. Strauss schreibt ununterbrochen "Fortepiano", also ein starker Akzent, dem eine sofortige Zurücknahme der Dynamik folgt. Nur so können die Sänger durch den dichten Orchesterteppich überhaupt durchdringen. Das kann ein Dirigent aber alles aus dem Handgelenk anzeigen.

Das klingt, als ließe sich das komplizierteste Tongeflecht wie eben jenes in der "Elektra", vergleichsweise mühelos organisieren.

Wenn man zuviel Gymnastik macht beim Dirigieren, stiftet man nur Verwirrung. Ich habe früher auch leidenschaftliche Bewegungen gemacht, um entsprechend temperamentvolle Interpretationen zu erzielen. Heute weiß ich, daß derselbe Effekt - oder vielleicht noch ein besserer - mit viel geringerem Aufwand zu erzielen ist. Wir können heute auch viel konzentrierter probieren als früher.
Die Musiker wissen das auch. Wir arbeiten so lange, bis wir unser Ziel erreicht haben.
Es muß nicht sein, daß man ununterbrochen eine bestimmte Passage wiederholen läßt. Das deckt oft eher die Unsicherheit eines Dirigenten auf als einen Fehler des Orchesters. Ich mache mit meinen Proben oft früher Schluß. Dann können die Musiker früher nach Hause gehen. Dafür arbeiten sie während der Probe konzentrierter.

Liegt es vielleicht an dieser Professionalität, der offenkundigen Souveränität, die Sie auch auf dem Podium ausstrahlen, daß Sie bei manchen Kommentatoren den Eindruck der Kühle und Distanziertheit hervorrufen ?

Kann sein. Ich halte mich aber nicht für kühl. Im Gegenteil. Ich bin ziemlich leidenschaftlich. Das hat aber nichts damit zu tun, daß ich meine Arbeit ordentlich mache.

Stimmt der Eindruck, daß Sie mit den Jahren ein sehr langsamer Dirigent geworden sind? "Elektra", normalerweise in einer Stunde und 45 Minuten zu Ende, dauert bei Ihnen jetzt zwei Stunden!

Ich glaube, daß man bei vielen Werken, mit denen man mit den Jahren wirklich vertraut ist, langsamer werden kann. Wenn man etwas nicht sehr gut kennt, dann neigt man dazu, schneller zu musizieren, auch um Unsicherheiten zu übertünchen. Je besser man Bescheid weiß, desto genauer will man in die Werke eindringen, desto langsamer muß man auch werden, damit alles hörbar wird. Andererseits dirigiere ich heute Stücke wie das Finale aus Beethovens Siebenter Symphonie schneller als früher, um die Sinneinheiten klarer zu bündeln. Das sind Erfahrungswerte, über die ein junger Dirigent nicht verfügt.

Studiert man Ihre Biographie, die sich liest wie die eines smarten Selfmademan, dann gewinnt man den Eindruck, Sie hätten alles in die Wiege gelegt bekommen: Wunderkind als Geiger und als Dirigent. Haben Sie von bestimmten Persönlichkeiten etwas gelernt?

O doch! Ich war ja einige Zeit als Orchestermusiker engagiert. Und damals haben Dirigenten wie Stokowski, Reiner, Rodzinski und de Sabata mit uns gearbeitete. Vor allem Victor de Sabata verdanke ich viel. Wenn ich einige Phantasie habe, dann ist das eigentlich auf diese Begegnung zurückzuführen: De Sabata hat mir gezeigt, wieviel hinter den Noten stecken kann. Er war auch ein ungeheurer Musiker, der sogar Nathan Milstein, der Dirigenten gegenüber unerhört arrogant war, in die Knie gezwungen hat: Auf einer Party fragte Milstein ihn, ob er auch mit Kammermusik etwas anfangen könnte, zum Beispiel mit den Brahms-Violinsonaten. De Sabata fragte: Welche wollen Sie spielen?, ging ans Klavier und begleitete auswendig.

Man sagt auch Ihnen ein phänomenales Gedächtnis nach.

Das kann man trainieren. Wenn man etwas wirklich gekonnt hat, dann ist es bei entsprechender Konzentration auf Abruf wieder bereit. Nur muß man dazu innerlich ruhig werden. Wie in Hypnose können Sie alles zurückholen.

In Salzburg zählen Sie im Moment offenbar zu den Stammdirigenten. Was folgt auf "Elektra"?

Wir haben für 1998 bereits einen schönen Plan.

Verdis "Don Carlos"?

Ich kann noch nicht sagen, was es sein wird. Aber es wird eine aufregende Sache.

Wo dirigieren Sie Oper - mit Ausnahme von Salzburg?

In München dirigiere ich im November zur Wiedereröffnung des Prinzregententheaters "Tri stan und Isolde". Wieder mit Hildegard Behrens, die hier die Elektra ist, und mit John Frederick West, einem jungen Amerikaner, der, wie ich glaube, ein sehr guter Heldentenor werden wird. 1997 kommt dann ein neuer "Parsifal" zur Eröffnung des Opernhauses von Madrid, obwohl ich nächstes Jahr pausieren möchte. Nur für die Japanreise mit meinem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und diesen "Parsifal" mache ich eine Ausnahme. Im übrigen will ich mich ausschließlich dem Komponieren widmen.

Sie haben öfter Dirigierpausen eingelegt, um zu komponieren. Was waren Ihre letzten Stücke?

Ich habe ein Werk für Mstislav Rostropowitsch geschrieben, das ziemlich schwer war, aber er hat keine Note daran geändert. Auch James Galway hat mein Flötenkonzert ohne die kleinste Adaptierung gespielt.

Kommt Ihnen beim Komponieren handwerklich ihre Erfahrung als Dirigent zugute?

Ich weiß nur, daß ich Hemmungen habe, für Geige zu schreiben, die ja mein Instrument ist. Bei Flöte oder Cello habe ich keine Schwierigkeiten. Ich spiele weder das eine noch das andere. Bei Geige denke ich schon nach zwanzig Takten darüber nach, wie es anders gehen könnte.

Die nächste Kompositionsarbeit bindet Sie wieder ein wenig an Wien, so hört man.

Stimmt. Ich schreibe ein symphonisches Stück für die Philharmoniker, das wir 1998 zur Uraufführung bringen werden.

Muß man Sie an der Staatsoper auch um eine Komposition bitten, damit es zu einem Comeback kommt? Ernsthaft gefragt: Gibt es die Chance, Lorin Maazel auch wieder als Operndirigent in Wien zu erleben?
Wenn man mir ein gutes Stück vorschlägt, dann komme ich mit Freuden auch wieder an die Oper zurück.

Wie ist denn Ihr Verhältnis zur zeitgenössischen Musik, einmal abgesehen von der, die Sie selbst komponieren? Sie waren ja lange Jahre Chef des Pittsburgh Symphony Orchestra. Und die amerikanischen Orchester stehen ja notorisch unter dem Druck, konsequent auch die neue amerikanische Musik aufzuführen.

Ich habe da nie mitgemacht. Nur einmal haben wir einen Zyklus veranstaltet, in dem wir die gesamte Spannweite der zeitgenössischen amerikanischen Musik dokumentiert haben. Wenn, dann machen wir die Sachen ordentlich. Da war dann in jedem Programm ein modernes Stück zu hören, quer durch die Stile; und auch quer durch die qualitativen Möglichkeiten.

Wie stehen Sie zu den jüngsten Tendenzen in der Musik: Nach einer Zeit der "Avantgarde um jeden Preis" bricht ja derzeit eine Art des "Zurück zur Natur" durch, man besinnt sich auf Dur und Moll und auf alte Werte.

Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die ungefähr im Jahr 1950 spielt: Ein junges Streichquartett hat sich damals zusammengefunden und monatelang geübt. Mit dem einzigen Ziel, Schönberg vorspielen zu dürfen. Dann hat er endlich ja gesagt, und sie haben ihm eines von seinen späten Streichquartetten vorgespielt. Und er hat sein eigenes Stück nicht erkannt, sondern nachher nur gemeint: "Können Sie nicht etwas Schönes spielen. Mozart vielleicht?" Er wollte am Ende seines Lebens keine Zwölftonmusik hören, sondern Mozart.
Das sagt doch recht viel. Oder?



↑DA CAPO