Lorin Maazel als Direktor

Bilanz, Erschienen im November 1984 in der Wochenzeitung Die Zeit unter dem Pseudonym Josef Schöndorfer
Die Geschicke der Wiener Staatsoper stehen in Österreich bekanntlich allzeit im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Vor allem dann, wenn ein international gefragter Star-Dirigent es unternimmt, eben diese Geschicke für einige Zeit nach seinen Vorstellungen zu lenken, ist des Beobachtens, Anteilnehmens und Kommentierens kein Ende.

Zu Zeiten, als Karl Böhm oder Herbert von Karajan als Operndirektoren fungierten, hat man bereits feststellen können, wie gefährlich hoch die Emotionen von Publikum und Presse aufwallen können. Über den kleinsten Kleinigkeiten vergessen dann oft recht wichtige Persönlichkeiten, was sich gehört, und sind bereit, einander – wenn auch nur verbal – die Köpfe einzuschlagen. In den letzten Jahren der Ära Karajan konnte die Frage, ob überhaupt und wenn ja, welcher Souffleur bei "La Boheme" in seinem Kasten sitzen soll, zu einem Problem von fast innenpolitischer Bedeutung werden.

Das mag für außerösterreichische Betrachter unglaubwürdig klingen, ist aber die pure Wahrheit. Zur Beruhigung hat man in der Zeit nach Karajan einige sogenannte "Nur-Manager" zum Operndirektor gemacht. Dann war es an der Zeit, einen Dirigenten zu bestellen, um dem Haus wieder zu altem Glanz zu verhelfen.

In Lorin Maazel hatte man dafür einen Mann gefunden, der aus den verschiedensten – nicht unbedingt sachlichen – Gründen vielen Beobachtern der "Szene" ein Dorn im Auge war. Schon anläßlich seiner früheren Auftritte als Dirigent haben die Kommentatoren Maazel nicht nur mit Lob überhäuft. Bevor er noch als Direktor in die Staatsoper einziehen konnte, dürfte für so manchen Beobachter festgestanden haben, daß der ungeliebte Star so schnell wie möglich wieder aus Wien vertrieben werden müsse.

Also bombardierten vom Tage des Amtsantritts an Maazels Gegner die Öffentlichkeit mit Berichten über die angeblich miserable Qualität der Opernaufführungen, legten dem Direktor großspurige Äußerungen in den Mund, die dieser so nie verlauten ließ, und versäumten insgesamt keine Gelegenheit, Maazel "unmöglich" zu machen.

Nun wäre es verfehlt zu behaupten, Maazel wäre ein Direktor ohne Fehl und Tadel gewesen, der von einer undurchschaubaren Mafia zugrunde gerichtet worden sei. Selbstverständlich hat es in seiner Ära schlechte Vorstellungen gegeben, selbstverständlich haben einige Sänger gesungen, die man einem kritischen Publikum besser nicht zumuten sollte. Und natürlich bleibt auch die Werkauswahl bei der Spielplangestaltung eine Geschmacksfrage. Aber hätte man Maazels Vorgängern mit derselben Vehemenz ihre Fehler vorgerechnet, so hätte es seit fünfzehn Jahren einen Skandal nach dem anderen geben müssen. Die Wahrheit aber ist, daß sich früher die Aufmerksamkeit auf die wenigen programmierten "großen" Abende und die Premieren beschränkt hat und die oft wirklich desolaten "Repertoireabende" den genügsamen Abonnenten überlassen blieben.

Seit Beginn der Ära Maazel aber maß man mit neuen, strengeren Maßen. Daß beispielsweise bei "Tosca" einmal die Statisten nicht auftraten, sorgte für boshafte Schlagzeilen – wenn in früheren Jahren sogar Sänger von Hauptpartien zu spät auf die Bühne kamen oder dem Sänger des Wotan in der Walküre mitten im dritten Akt, kurz vor seinem Auftritt, einfiel, daß er lieber doch nicht weitersingen möchte und die Vorstellung unterbrochen werden mußte, bis Ersatz herbeigeholt war, hieß es bestenfalls: "Das kann ja mal passieren". So ändern sich die Zeiten.

Abgang im Zorn

Dabei vergaß man geflissentlich, was Maazel an Positivem bewirkt hatte. In seiner kurzen Amtszeit kam es neben den häufigen Auftritten von bereits in Wien "beheimateten" Lieblingen wie Domingo und Carreras zu Debüts und Comebacks von Stars wie Grace Bumbry, Eva Marton, Lucia Valentini oder Lucia Aliberti, René Kollo oder Pavarotti und zu Erstengagements von Dirigenten wie Claudio Abbado und Riccardo Chailly. Das Repertoire wurde um wesentliche Werke der Musik unseres Jahrhunderts bereichert, ein Künstler wie Giorgio Strehler inszenierte erstmals an der Staatsoper, und last but not least: Maazel selbst dirigierte bis zu vierzig Mal im Jahr und forderte das Orchester zu absoluten Höchstleistungen heraus ...

Es sei, wie es ist. Nachdem der für die Staatstheater zuständige Minister die Polemiken zu allem Überfluß noch in die aktuelle Tagespolitik zog, wurde es Maazel zu bunt. Er ging im Zorn, zwei Jahre früher, als geplant. Als Interimsmanager bestellte der Minister den Hofrat Egon Seefehlner, Maazels Vorgänger im Amt und jetzt sein Nachfolger bis 1986.

Nun ist für die Kommentatoren wieder "alles in Ordnung". Denn Seefehlner ist mit der Ankündigung angetreten, einige der Pläne Maazels über den Haufen zu werfen und althergebrachte Gewohnheiten, die von Maazel ausgeräumt worden waren, wieder einzuführen. Das sogenannte "Blocksystem" etwa, in dem zugunsten besserer Probenökonomie eine Oper prinzipiell mehrmals in gleicher Besetzung innerhalb weniger Wochen gespielt wird, will Seefehlner wieder durch einige eingeschobene "Einzelvorstellungen" auflockern. Außerdem versucht er, dieselben Opern in verschiedenen Besetzungen anzubieten. Deshalb durfte zum Beispiel eine für vier Vorstellungen engagierte, sehr gute Sängerin die "Tosca" nur zweimal singen, um Platz für eine andere Dame zu machen, die, wie sich herausstellte, leider nur einen bekannten Namen, nicht aber die für Puccini geeignete Stimme hat.

Immerhin bringt der neue/alte Direktor auf diese Weise Abwechslung in den Spielplan, was von verschiedenen Seiten heftig gefordert worden war. Und er hält die Spannung aufrecht, wenn zum Beispiel wochenlang für "Così fan tutte" geprobt wird – und man wenige Tage vor der geplanten "Wiederaufnahme" noch immer nicht weil, ob nicht statt "Cosi" doch der "Figaro" gegeben wird ...

Jedenfalls sind bei den für diese Saison geplanten Premieren bereits einige Änderungen vorgenommen worden. "Elektra", die Maazel selbst dirigieren wollte, findet überhaupt nicht statt, an Stelle von "Eugen Onegin" inszeniert Ken Rüssel jetzt Gounods "Faust", weshalb das lang ervartete und endlich fixierte Debüt von Seji Ozawa wieder einmal ins Wasser fällt, denn dieser hätte lieber Tschaikowsky dirigiert. Lediglich die Premiere von "Cavalleria" und "Bajazzo" bleibt, wie Maazel sie festgesetzt hat – nur wird statt des ehedem Hausherren nun Adam Fischer dirigieren. Auch "Tristan", "Meistersinger" und "Frau ohne Schatten", die Wiederaufnahmen der Saison, übernimmt Seefehlner ohne Änderung.

Dafür setzt er unter das kuriose Kapitel "Ring des Nibelungen" einen scheinbaren Punkt, indem er die Pleite der in seiner ersten Amtszeit abgebrochenen Neuinszenierung der Tetralogie durch die Entmottung der fast dreißig Jahre alten Karajan-Inszenierung der "Walküre" wettzumachen sucht. So kommt das Wiener Publikum immerhin in den Genuß, Peter Schneider, den Bayreuther "Retter in der Not", auch als Wagner-Dirigenten erleben zu können, nachdem er bereits im September mit dem "Rosenkavalier" einen großen Erfolg verzeichnen durfte.

Als Sensationen dürfen allerdings das Wiederauftreten von Carlos Kleiber mit "Boheme" im Januar, sowie das "Lohengrin"-Debut von Placido Domingo im Dezember gewertet werden. Diese beiden Engagements darf man getrost auf die Habenseite Seefehlners buchen – wenn sie tatsächlich stattfinden. Wie weit es allerdings dem Opernchef gelingen wird, adäquate Dirigenten für jene über vierzig Abende zu finden, an denen Lorin Maazel am Pult stehen sollte, bleibt, wie man so schön sagt, abzuwarten.



↑DA CAPO