Worauf wir so lange verzichtet haben

Luzern Festival, September 1991

Lorin Maazels erstes Konzert mit den Wiener Philharmonikern nach seinem Abgang von der Staatsoper.

Daß die Wiener Philharmoniker sich während der vergangenen Jahre unter ihrem Wert verkauft haben, ist nirgends eindringlicher als an dieser Stelle hervorgehoben worden. Die Musiker verschwendeten sich an Dirigenten, die ihre Qualitäten nur kursorisch zur Entfaltung bringen mochten oder konnten. Wie sehr der Vorwurf zutrifft, die Philharmoniker hätten sich zumeist mit der Mobilisierung eines Bruchteils ihres gigantischen künstlerischen Potentials begnügt, wird immer dann schockartig deutlich, wenn zur Abwechslung endlich ein wirklich großer Dirigent ans Pult tritt und auch die sonst brachliegenden Möglichkeiten bis zur Neige ausreizt. Das Konzert am Donnerstag abend im Luzerner Kunsthaus unter Lorin Maazels Leitung war ein solcher Schock.

Gemildert vielleicht durch die Tatsache, daß es im Februar in New York anläßlich einer konzertanten Aufführung von Richard Strauss' "Elektra" gar nicht fahrplanmäßig zu einer ersten Wiederbegegnung des Orchesters mit diesem Dirigenten gekommen ist, die mit einem Sensationserfolg endete, enden mußte. Für Luzern war nun offiziell das Ende der Eiszeit zwischen Maazel und dem Orchester programmiert. Dem Schweizer Festspielpublikum, das seiner Begeisterung zuletzt in rhythmischem Klatschen, Trampeln und Bravorufen Luft machte, konnte gar nicht ermessen, wie einem Wiener Besucher dabei zumute sein mußte. Ist es doch seltsam, ausgerechnet nach Luzern fahren zu müssen, um den lange vermißten philharmonischen Traumklang in voller Blüte wieder erleben zu dürfen.

Vom ersten Augenblick der eingangs dargebotenen Fünften Symphonie Sergej Prokofieffs herrschte ein anderer Umgangston im Orchester. Die Kontrabässe hoben zu einem ebenmäßig schönen gesanglichen Legatobogen an, die Geigerkollegen erwiderten mit bis in die höchsten Höhen hinauf klaren, eines Sinnes - und einer sauberen Frequenz - ausgespielten Kantilene.

In solchen Momenten wird deutlich, wie sehr mancher aus anderen, künstlerisch jedenfalls unerfindlicheren Gründen berühmt gewordene Kollege Maazels bereits beim Grundvokabular des Orchestererziehers scheitert. Bei den Hausaufgaben sozusagen, deren eine, nicht zu unterschätzende Grundregel ein großer Maestro des vorigen Jahrhunderts einem schlampigen Sänger ins Stammbuch notiert hat:

"Mein lieber Wachtl, eine Viertel ist keine Achtel".

Kurz: Für die ersten Schrecksekunden befällt den solch perfektem Orchesterklang entwöhnten Hörer der Respekt vor den Musikern, die plötzlich wieder akkurat und mit hörbarem Animo alle ihnen zugedachten Noten bis zur Neige ausspielen. Sechzehn erste Geigen eines Sinnes, oder die ganze Bläserbatterie in sensibler Balanceübung, bedacht auf die Feinabstimmung "im eigenen Haus". Unschätzbar viel ist mit solch selbstbewußter Präzisionssteigerung schon gewonnen. Da kann sich im Furor der Ereignisse, den Prokofieff immer wieder beschwört, höchst transparent Musik entfalten, verkommt nicht zum Lärm. Gegen die Mitte des Kopfsatzes etwa, wo unterschiedlichste melodische Linien gegeneinander geführt werden, niemals aber zum undurchdringlichen Zentralmassiv verschmelzen, wie das so häufig bei Aufführungen dieser Symphonie geschieht.

Daß sich erst in solchen Momenten der klaren Darstellung des Notentextes höhere Formen von Interpretation ereignen können, erfährt der Hörer bei dieser Gelegenheit auch. Jedes einzelne Solo der blendend disponierten Bläser erhält dank des persönlichen Einsatzes der Musiker so ausdrucksstarkes Gewicht wie etwa die faszinierend zart hingetupften Einwürfe der Geigen im Mittelteil des insgesamt federleicht und springlebendig tänzelnden Scherzos. Auch die gewaltigen Entladungen, die im langsamen Satz für höchste dramatische Verdichtung sorgen, entfalten bei solch glasklarer Darstellung ihr ganzes niederschmetterndes Gewicht.

Mit demselben Elan, derselben unfaßbar reichen Farbpalette machten sich die Musiker zuletzt ans Auserzählen der "lustigen Streiche" Till Eulenspiegels, die Richard Strauss skizziert hat. Maazel wird da zum Märchenonkel, der mittels brillanter, zu etlichen Kapriolen befähigten Schlagtechnik noch die winzigste orchestrale Pointe aufspürt und zum Leben erweckt. Mit einem Schwung, der für die paar Sekunden des berühmten frechen "Gassenhauers" sogar Neujahrskonzert-Niveau erreicht.

Nur ein Märchen, eines der berühmtesten, straft der Dirigent auf diese Weise Lügen: das vom kühl berechnenden technokratischen Pultvirtuosen Maazel, der wie es heißt - Gefühl zu allerletzt aufkommen ließe. So inspiriert spielten die Philharmoniker wahrhaftig nicht alle Tage auf. Inmitten des Konzertes verzauberten sie noch Debussys "Nachmittag eines Fauns" zum intimen Spiel mit musikalischen Reizklängen. Aus ganz schlichtem Beginn erhoben sich Wellen von betörendem Schönklang. Angeführt von einem brillanten Flötensolo, gekrönt zuletzt von einem kurzen Einwurf der beiden Konzertmeister Küchl und Binder, deren einhelliges Portamento nachwies, daß der Faun diesmal eindeutig in Wien seinen Nachmittag verbringt. Das tut ihm gut.

Paradox nur, solches in der Schweiz zu erfahren. Auch das wird sich in Hinkunft ändern. Wer sollte besser als die Philharmoniker wissen, was die Zusammenarbeit mit einem solchen Dirigenten wert ist? Wer sollte besser wissen als Maazel, daß er dieses Orchester braucht? Ich will nicht behaupten, er sei der einzige, der einem Orchester heute solche vollendeten Leistungen abverlangen könnte. Nur, so viele seines Schlages sind nicht zu zählen, als daß man auf ihn auf Dauer verzichten dürfte







↑DA CAPO