»Der Ring des Nibelungen«


I

Von »Siegfrieds Tod« zur »Götterdämmerung«

Der weg zum 16-stündigen, auf vier Abende verteilten Musikdrama war weit, doch die Kozeption des gigantischen Projekts nahm im Vergleich zum steinigen Entstehungsproeß der Gesamt-Komposition verhältnismäßig rasch Gestalt an.

Am Anfang stand ein dreiaktiges Musikdrama.

»Siegfrieds Tod«

Mit dem Nibelungenlied und den Wotans-Mythen der altnordischen Edda hat sich Richard Wagner in den späten Vierzigerjahren intensiv auseinandergesetzt.

1848 skizzierte er in Prosa Die Nibelungensage (Mythus) und einen Prosaentwurf zur Textdichtung eines dreiaktigen Dramas Siegfrieds Tod. Dessen Grundstruktur ging später in die Götterdämmerung ein, weshalb das abschließende Werk der Nibelungen-Tetralogie, anders als die später gedichteten Teile vom Rheingold bis zu Siegfried formal noch deutlich an der Grand Opéra orientiert scheint - inklusive Chor und einer geradezu klassischen Szenenfolge.

Schon Siegfrieds Tod hätte mit einer Szene der Nornen begonnen, die textlich allerdings noch ganz anders geartet war als der bekannte Auftakt zum »Vorspiel« der Götterdämmerung.


Skizze zur Nornenszene in Siegfrieds Tod

Bemerkenswert, daß sich die rare Tonart es-Moll ebenso auf die textlich völlig umgeformte Nornenszene der Götterdämmerung vererbt hat wie die Bewegung im ebenso raren 6/4-Takt . . .



Die Beteiligung an den revolutionären Umtrieben der 1848/49 zwang Wagner zur Flucht aus Deutschland. Er schlug seine Zelte zunächst in Zürich auf, dachte aber vor allem daran, eine Oper für Paris zu schreiben. An Franz Liszt schrieb er damals:
meine sache ist – eine oper für Paris zu schreiben, zu allem andren bin ich untauglich. Dieser zweck läßt sich nicht im sturm erreichen; im glücklichen falle habe ich in einem halben jahre die dichtung, in einem und einem halben jahre die aufführung. ... Im October ... gehe ich auf kurze zeit ... nach Paris,suche durch alle mögliche mittel mir den auftrag zur composition des betreffenden sujets zu verschaffen, führe vielleicht auch etwas auf, und kehre dann nach Zürich zurück um die musik zu machen. Meine zeit bis dahin wende ich aber dazu an, meine letzte deut- sche dichtung: »Siegfrieds tod« endlich zu componi- ren; in einem halben jahre sende ich Dir die oper fer- tig zu.
Das ist die erste ernsthafte Andeutung einer musikalischen Arbeit an der Vorform der späteren Götterdämmerung. Der Zeitplan kam dann freilich gehörig durcheinander . . .

Aus Siegfrieds Tod wurde bald die Keimzelle zur großen Ring-Dichtung, in der der »Vorabend« (Rheingold) und den beiden »Abenden« Die Walküre und Der junge Siegfried, der nur noch Siegfried hieß, sobald Siegfrieds Tod zur Götterdämmerung geworden war.

Ehe an eine Komposition dieses Mammutprojekts überhaupt zu denken war, las Wagner den Text verschiedentlich im privaten Kreis und ließ die Dichtung schließlich drucken.
II

Vom »Rheingold« zum »Siegfried«

Aus Richard Wagners Anmerkungen zur Entstehung seiner Tetralogie in der Schrift
»Epilogischer Bericht«


Bevor ich, im Beginne des Jahres 1853, mein Nibelungen-Gedicht drucken und vertheilen hatte lassen, war der Stoff des mittelalterlichen Nibelungenliedes, meines Wissens, nur einmal, und zwar bereits vor längerer Zeit, von Raupach in seiner nüchternen Weise zu einem Theaterstück verarbeitet, und als solches, ohne Erfolg, in Berlin aufgeführt worden.
Bereits länger vor jener seiner diskreten Veröffentlichung waren aber Theile meines Gedichtes, sowie das Vorhaben meiner Beschäftigung mit dem Nibelungenstoffe ... zur Beachtung und meistens spaßhaften Besprechung in Journalen gelangt. Bald zeigte es sich nun, daß ich mit der Wahl meines Stoffes einen besonders »glücklichen Griff« gethan zu haben schien, welchen Andere um so eher nachzugreifen sich veranlaßt fühlen konnten, als mein Unternehmen jedenfalls für ein chimärisches und gänzlich unausführbares angesehen, und namentlich dafür ausgegeben werden durfte.


Wagner verweist auf die durch seine Vorarbeit in Deutschland - beginnend mit einer 1854 uraufgeführten Nibelungen-Oper von Wagners Vorgänger (und Nachfolger!) in Riga, → Heinrich Ludwig Dorn (1804-1892) - grassierenden »Nibelungen-Mode«.

auch unter unseren Litteratur-Dichtern, welche sich plötzlich veranlaßt fanden, diesen so national offen liegenden Stoff der Bühne, für welche er bisher so wenig tauglich geschienen hatte, zuzuwenden.


Ironisch betrachtet Wagner in der Folge die Hilflosigkeit seiner Epigonen.

So viel ich weiß, haben jene Theaterdichter sich nicht angezogen gefühlt, den gleichen eingehenden Studien, welche ich über den vorliegenden Mythus machte, und welche mir die Gestalten desselben zuerst in einem für das Drama einzig werthvollen Lichte zeigten, nachzugehen. Daß ich diese, der litterarischen Forschung bei weitem näher gestellten Herren zu einer tieferen Betrachtung ihres Gegenstandes nicht anregen konnte, müßte mir eher bedauerlich sein, weil es eine sehr oberflächliche Beachtung meiner Arbeit verrathen würde, wenn ich nicht viel eher auf eine geringschätzige Nichtbeachtung derselben zu schließen hätte.
...
Doch war endlich nichtsdestoweniger auch das besondere Gewand meiner Dichtung beachtet worden.
Die Lieder der Edda, welche seitdem durch Simrock sehr leicht zugänglich gemacht worden waren, schienen Jeden einzuladen, es doch auch in der Weise, wie ich dieß gethan zu haben schien, an der altnordischen Quelle zu versuchen.

Entstehung der Musik

Über die Neuartigkeit der musikalischen Umsetzung seiner poetischen Ideen war sich Wagner vollkommen im klaren. Die Sicherheit, die er als Musikdramatiker gewonnen hatte, ließ ihn zunächst ungemein rasch vorankommen.

Mit großer Freudigkeit begann ich, nach fünfjähriger Unterbrechung meines musikalischen Produzirens, in der Jahreswende von 1853 zu 1854 die Ausführung der Komposition meiner Dichtung. Mit dem »Rheingold« beschritt ich sofort die neue Bahn, auf welcher ich zunächst die plastischen Natur-Motive zu finden hatte, welche in immer individuellerer Entwickelung zu den Trägern der Leidenschafts-Tendenzen der weitgegliederten Handlung und der in ihr sich aussprechenden Charaktere sich zu gestalten hatten. Die eigenthümliche Naturfrische, welche von hier aus mich anwehete, trug mich ohne Ermattung, wie in hoher Gebirgsluft, über alle Anstrengungen meiner Arbeit hinweg, in welcher ich bis zum Frühjahre 1857 die Musik des »Rheingold«, der »Walküre« und eines großen Theiles des »Siegfried« vollständig aus führte.


1857 kommt es zur Unterbrechung der Arbeit am Ring. Wagner spricht von »Erschöpfung«

Jetzt trat die Reaktion gegen die Anstrengungen dieser Ausdauer ein, welcher von keiner Seite her eine Stärkung zugeführt wurde. Seit acht Jahren hatte keine Aufführung eines meiner dramatischen Werke mit erfrischender Anregung auf meine sinnlich konzeptiven Kräfte mehr gewirkt, unter den größten Mühen war es mir möglich gewesen, mir zuweilen selbst nur den Klang eines Orchesters vorzuführen.


Tatsächlich war Wagner nach seinen offen zur Schau getragenen Sympathien für die Revolution in Deutschland steckbrieflich gesucht, hatte in der Schweiz Zuflucht gesucht und konnte daher auch die Aufführungen seines Lohengrin nicht erleben. Die Arbeit am Siegfried hatte er im Juni 1857 an jener Stelle, an der das später so berühmte »Waldweben« beginnt, abgebrochen. Gegen Ende des Jahres stellte er aber - entgegen anderslautenden Gerüchten - die Orchesterskizze des gesamten zweiten Aufzugs des Siegfried fertig. Danach wandte er sich anderen, nicht weniger anspruchsvollen Projekten zu: Tristan und Isolde sowie den Meistersingern von Nürnberg.

»Abschieds«-Vermerk in der Skizze zu Siegfried

Im Jahr 1862, als absehbar schien, daß der dritte Aufzug des Siegfrieds und die Götterdämmerung doch noch in Musik gesetzt würden, ließ Wagner in Wien verlauten, wie er sich die Aufführung der Tetralogie dachte - nach wie vor war das kühne Projekt den revolutionären Gedanken der späten Vierzigerjahre verpflichtet und sollte so etwas wie eine gigantische, einmalige Aktion werden.



III

Von »Siegfrieds Tod« zur »Götterdämmerung«

Viel ist geschrieben worden über die verschiedenen Textworte, die Wagner seiner Brünnhilde im Verlauf der Arbeit im Ring am Ende der Götterdämmerung in den Mund legen wollte. Tatsächlich schloß der erste Textentwurf zum Drama Siegfrieds Tod noch mit einer Anrufung Wotans und der Wiederherstellung seiner Macht.
Nur einer herrsche:
Allvater! Herrlicher, du!

Schon wenige Monate nach der Niederschrift des Dramentextes änderte Wagner den Sinn dieses Opernfinales unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Dresden, in deren Zuge er zur persona non grata wurde und Deutschland verlassen mußte: Aus Siegfrieds Tod wurde die Götterdämmerung. Aus einer meist sträflich unterbelichteten oder gänzlich unbeachteten Regieanweisung am Ende des Textbuchs zur Götterdämmerung geht hervor, daß Wagner die Götter untergehen lassen wollte, aber nicht die Welt: Das Volk steht und blickt ergriffen auf das verbrennende Walhall. Es soll sein Schicksal selbst in die Hand nehmen! So lautet Wagners Botschaft. Obwohl er vor der Komposition der Götterdämmerung, die er erst zwei Jahrzehnte nach der Niederschrift des Textentwurfs in Angriff nahm, verschiedene Varianten skizzierte - auch einen quasi »buddhistischen« Schluß unter dem Einfluß Schopenhauers - hat sich der Komponist zuletzt entschlossen, den ursprünglichen, revolutionären Schluß zu vertonen, eine Tatsache, die von der wohlwollenden wie der verteufelnden Wagner-Deutung gern vernachlässigt oder ganz verschwiegen wird.


Textvarianten des Schlußgesangs

Im sechsten Band der von ihm selbst redigierten gesammelten Werke teilt Wagner zwei Dichtungs-Fragmente mit, die er letztendlich nicht vertont hat, weil er - wie er schreibt - der Ansicht war, die Worte seien lediglich der Versuch gewesen,
in sentenziösem Sinne die musikalische Wirkung des Drama's im Voraus zu ersetzen.

Die ersten Verse, die Brünnhildes Schlußgesang angefügt werden sollten, lauteten:

Ihr, blühenden Lebens
bleibend Geschlecht:
was ich nun euch melde,
merket es wohl!
Sah't ihr vom zündenden Brand
Siegfried und Brünnhild' verzehrt;
sah't ihr des Rheines Töchter
zur Tiefe entführen den Ring:
nach Norden dann
blickt durch die Nacht:
erglänzt dort am Himmel

ein heiliges Glühen,
so wisset all' –
daß ihr Walhall's Ende gewahrt! –

Verging wie Hauch
der Götter Geschlecht,
lass' ohne Walter
die Welt ich zurück:
meines heiligsten Wissens Hort
weis' ich der Welt nun zu. –
Nicht Gut, nicht Gold,
noch göttliche Pracht;
nicht Haus, nicht Hof,
noch herrischer Prunk;
nicht trüber Verträge
trügender Bund,
nicht heuchelnder Sitte
hartes Gesetz:
selig in Lust und Leid
läßt – die Liebe nur sein. –


Unter Schopenhauers Einfluß entstand noch die folgende Version:

Führ' ich nun nicht mehr
Nach Walhall's Feste,
wiss't ihr, wohin ich fahre?
Aus Wunschheim zieh' ich fort,
Wahnheim flieh' ich auf immer;
des ew'gen Werdens
off'ne Thore
schließ' ich hinter mir zu:
nach dem wunsch- und wahnlos
heiligstem Wahlland,
der Welt-Wanderung Ziel,
von Wiedergeburt erlös't,
zieht nun die Wissende hin.
Alles Ew'gen
sel'ges Ende,
wiss't ihr, wie ich's gewann?
Trauernder Liebe
tiefstes Leiden schloß die Augen mir auf:
enden sah ich die Welt. –

Schließlich bemerkt Wagner dazu:
Daß diese Strophen, weil ihr Sinn in der Wirkung des musikalisch ertönenden Drama's bereits mit höchster Bestimmtheit ausgesprochen wird, bei der lebendigen Ausführung hinwegzufallen hatten, durfte schließlich dem Musiker nicht entgehen.















↑DA CAPO