Die Nornenszene


H. v. Marées: Die Parzen (1883, Ausschnitt)

Einleitungsszene von Siegfrieds Tod in der Fassung von 1848


(Nach sehr kurzer musikalischer Vorbereitung wird der Vorhang aufgezogen. Die Bühne stellt den Gipfel eines Felsenberges dar: links der Eingang eines natürlichen Steingemaches. Der Saum der Höhe ist nach dem Hintergrunde zu ganz frei: rechts hohe Tannen. – Helle Sternennacht.)


DIE DREI NORNEN

(hohe Frauengestalten in dunklen, faltigen Gewändern, spannen ein goldenes Seil aus. Die Erste [Älteste] knüpft das Seil, zur äußersten Seite rechts, an einer Tanne fest. Die Zweite [Jüngere] windet es links um einen Stein. Die Dritte [Jüngste] hält das Ende in der Mitte des Hintergrundes.)

DIE ERSTE NORN.
In Osten wob ich.

DIE ZWEITE.
In Westen wand ich.

DIE DRITTE.
Nach Norden werf' ich.


(Zur Zweiten.)



Was wandest du im Westen?

DIE ZWEITE

(zur Ersten.)


Was wobest du im Osten?

DIE ERSTE

(während sie das Seil von der Tanne löst.)

Rheingold raubte Alberich,
schmiedete einen Ring,
band durch ihn seine Brüder.

DIE ZWEITE

(das Seil vom Stein loswindend.)


Knechte die Nibelungen,
Knecht auch Alberich,
da ihm der Ring geraubt.

DIE DRITTE

(das Ende des Seiles nach dem äußersten Hintergrunde zuwerfend.)


Frei die Schwarzalben,
frei auch Alberich:
Rheingold ruh' in der Tiefe!


(Sie wirft das Seil der Zweiten, diese es wieder der Ersten zu, welche es von Neuem wieder an die Tanne knüpft.)



DIE ERSTE.
In Osten wob ich.

DIE ZWEITE

(die das Seil wieder um den Stein gewunden.)



In Westen wand ich.

DIE DRITTE

(das Ende wieder emporhaltend.)



Nach Norden werf' ich. –
Was wandest du im Westen?

DIE ZWEITE.
Was wobest du im Osten?

DIE ERSTE

(das Seil wieder lösend.)



Der Götter Burg bauten Riesen,
begehrten drohend zum Dank den Ring:
Ihn entrissen die Götter dem Nibelung.

DIE ZWEITE

(das Seil wieder loswindend.)


Sorgen seh' ich die Götter,
es grollt in Banden die Tiefe:
Freie nur geben Frieden.

DIE DRITTE

(das Ende wieder werfend.)


Freudig trotzet ein Froher,
frei für die Götter zu streiten:
durch Sieg bringt Friede ein Held.

(Sie verfahren mit dem Seil genau wieder wie zuvor.)



DIE ERSTE.
In Osten wob ich.

DIE ZWEITE.
In Westen wand ich.

DIE DRITTE.
Nach Norden werf' ich. –
Was wandest du im Westen?

DIE ZWEITE.
Was wobest du im Osten?

DIE ERSTE.
Einen Wurm zeugten die Riesen,
des Ringes würgenden Hüter.
Siegfried hat ihn erschlagen.


DIE ZWEITE.
Brünnhild gewann der Held,
brach der Walküre Schlaf:
liebend lehrt sie ihm Runen.

DIE DRITTE.
Der Runen nicht achtend, untreu auf Erden,
treu doch auf ewig, trügt er die Edle:
doch seine That taugt sie zu deuten,
frei zu vollenden, was froh er begann.


(Sie werfen sich das Seil wieder zu.)



Windest du noch im Westen?
DIE ZWEITE.
Webest du noch im Osten?


(Morgendämmerung bricht an.)



DIE ERSTE.
Meinem Brunnen nahet sich Wotan.

DIE ZWEITE.
Sein Auge neigt sich zum Quell.

DIE DRITTE.
Weise Antwort laßt ihm werden!

DIE DREI NORNEN ZUSAMMEN

(während sie das Seil vollständig aufwinden.)


Schließet das Seil, wahret es wohl!
Was wir spannen, bindet die Welt.


(Sie umfassen sich und entschweben dem Felsen. – Der Tag bricht an.)








↑DA CAPO