Jetzt endlich haben wir »Amerika« entdeckt
Der »steirische herbst« rehabilitiert Roman Haubenstock-Ramatis Avantgarde-Gipfelwerk
»Die Presse«, 5. Oktober 1992
»Nicht verzweifeln, auch darüber nicht, daß du nicht verzweifelst« das Motto über Roman Haubenstock-Ramatis Kafka-Oper »Amerika« erhielt in der Grazer Premiere anläßlich des »steirischen herbstes« einen eigenwilligen Doppelsinn.
Zuerst freilich: Die Aufführung geriet zum Triumph für sämtliche Ausführenden und zur Ehrenrettung des Komponisten und des Stückes - der vielleicht konsequentesten Musiktheater-Avantgarde, die je gewagt wurde - 25 Jahre nach der desaströsen, im Unverstand und Unwillen untergegangenen Berliner Uraufführung.
Seither hat sich keiner mehr an »Amerika« gewagt. Seither ist, behaupte ich jetzt einmal, in der Neuen Musik nichts »Neueres« mehr passiert. »Amerika« wurde, irgendwie ein Höhepunkt der Avantgarde, zum stummen Mahnmal der jüngsten Musikgeschichte. Heute ist es, obwohl es keiner mehr seit 1966 gehört und gesehen hat, durch seine bloße Existenz als Partitur, als Idee, eine Art kostbares Museumsstück.
Daran sollte man denken, wenn man die Grazer Aufführung erlebt und sich vielleicht das eine oder andere Mal bei der Ansicht ertappt, dies sei Progressivität von vorgestern. In der Tat: Das ist Progressivität von vorgestern. Aber was für welche!
Man muß, das ist Intendant Gerhard Brunners Verdienst, solche Gipfelwerke immer wieder zur Diskussion stellen. Man wird weltweit, so viel will ich prophezeien, nach den Jubelstürmen am Samstag abend, an »Amerika« in Hinkunft nicht mehr vorbei können: Es ist jetzt endlich da, nicht mehr nur als Idee, sondern als erfolgreiches, spielbares Werk.
Erregungen wegen allzu großer »Modernität« wird es heute nicht mehr provozieren. Die Mittel, die Haubenstock einsetzt, sind uns jetzt, ein Vierteljahrhundert nach der Entstehung, vertraut, durch allerlei weniger gelungene, aber immerhin aufgeführte »Nachfolger«, vom Kino-Dolby-Stereo-Ton, aus Funk und Fernsehen.
Man »verzweifelt« also, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, nicht mehr an solchen Klängen. Und das ist gut so. Sie tun heute, weil mehr oder weniger "allgemein verständlich" geworden, ihre Wirkung. Sie tun das unmittelbar und packend, wenn sie so perfekt und engagiert dargeboten werden wie diesmal vom Grazer Ensemble, dem Orchester, dem Chor und den Solisten unter der souveränen Führung von Beat Furrer. Da stimmen die vom Komponisten beabsichtigten halluzinatorischen Verschmelzungen von auf Tonband vorproduzierten und live ertönenden Klängen.
Da entwickelt die Musik tatsächlich den gewollten vielschichtigen, irisierenden Effekt und überhöht so Kafkas Geschichte vom aus Europa ausgestoßenen Emigranten Karl Roßmann - mit ihren existenziellen und sexuellen Phantasien, Ängsten, all dem Zwang und der enttäuschten Hoffnung, den zerstörten Idealvorstellungen und vielfach ineinander verkeilten Erinnerungs-, Eindrucks-, Traum- und Wirklichkeitsfetzen mit klingenden Mitteln; aufgespannt zwischen einem klaren Gesangston und undurchdringlichen Geräuschkonglomeraten.
Was die Moderne auf diversen Ebenen erreichte, bevor sie von der »Post« geholt wurde, verschmilzt Haubenstock in seinem Hauptwerk auf virtuose Weise zum Gesamtkunstwerk. Wo andere mit Streichquartetten zum Thema Auflösung der Strukturen experimentieren, beherrscht dieser Komponist den Kosmos Oper als "offene Form". In Graz kann man das jetzt hörend erleben, weil Furrer und das Ensemble ganze, große Arbeit geleistet haben.
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Sehen kann man es nicht. Jetzt sind wir wieder beim Doppelsinn.
Regisseur Rudi van Dantzig, ein phantasievoller Mann, hat samt seinem Partner Toer van Schayk weder Kafkas irreale Traumwelten noch Haubenstocks musiktheatralische Ideen dazu umzusetzen versucht, sondern Karl Roßmanns Geschichte Stufe für Stufe als eine Art Märchen erzählt. In hübschen bunten Bildern mit artigem Lämpchenzauber.
Er ist Theatermann genug, daß er nicht nur dort, wo er sich in seinem ureigenen Terrain, dem Ballett, bewegt, das Geschehen immer wieder im Verein mit der Intensität der Musik verdichtet und zu spannenden Höhepunkten führt. Etwa in den Szenen zwischen Karl (dem ausdauernden, schüchtern getriebenen Eugene Procter) und Klara (großartig in Stimme, Gestalt und Bewegung: Susanne Kopeinig), in der "Austreibung" durch den Onkel (den profund tönenden Konstantin Sfiris) oder in den grotesken, amüsant gelösten Brunelda-Auftritten von Christina Ascher, die dank ihrer Koloratur-Überarie lauten Applaus einheimst.
Insgesamt freilich scheint mir van Dantzigs Arbeit am eigentlichen Ziel des Stückes vorbei in ein simples Muppets-Show-Land zu arbeiten, dessen Naivität nicht den Zugang zum Eigentlichen erleichtert, sondern ihn vielleicht unmöglich macht: Zum Verzweifeln war da nichts. »Amerika« wurde, fernab von drastischer Darstellung oder künstlich hochwertiger Stilisierung zum bunten, altmodischen Theaterspektakel. Die Kehle schnürt es dem Zuschauer dabei naturgemäß niemals zu. In Graz.
Freilich: Der »herbst« wird nicht die letzte Station dieses Werkes bleiben. Und insofern war man am Samstag abend Zeuge eines Ereignisses, das vielleicht ein historisches Datum werden wird.