Roman Haubenstock-Ramati

Ein altes Landschloß, vollkommen devastiert. Gefängnis für Hunderte Häftlinge. Überall Schmutz, die Böden herausgerissen, die Fenster eingeschlagen.

Musik auf Glas

Glasscherben können freilich nützlich sein: Man trägt gleichmäßig eine schwarze Schmutzschicht auf. Mit einem Stückchen Holz zieht man auf dieser Schreibgrundlage waagrechte Linien, dreimal fünf, fein säuberlich untereinander. Jede Fünfergruppe durch einen kleinen Abstand von der nächsten abgesetzt.
Auf dieser fantastischen Art von Notenpapier lassen sich nun kurze Abschnitte musikalischer Ideen notieren. Ist ein Segment abgeschlossen, wird memoriert. Sobald das Gehirn die Musik gespeichert hat, beginnt die Prozedur von Neuem. Das eben auswendig gelernte Komponierte wird wieder geschwärzt, Notenlinien gezogen . . .

Das Streichtrio

Das auf diese Weise entstandene Streichtrio hat, was die abenteuerliche Entstehungsgeschichte betrifft, gewiß nicht Seinesgleichen in der Musikgeschichte. Wie auch sein Schöpfer lebenslang darauf bedacht war, alles anders zu machen.
Nicht um des Andersseins willen, sondern weil es aufregend war, die Dinge neu zu denken. Die Musik neu zu denken, besser gesagt, nicht aufbauend auf der großen Tradition, der deutschen, der italienischen, der französischen, der russischen. Ganz eigene Musik zu erfinden, improvisierend, die Klänge wie in einem Spiel gewinnend – oder verlierend.

Ewige Variationen

Aber das ist schon eine Lüge: Wer so spielt, gewinnt immer. Es gilt nur, die Spielpartner, die das Spiel der Gedanken zu realisieren haben, zum Mitspielen zu gewinnen – und auch für sie die Sache immer fantastischer, immer freier werden zu lassen; sodaß sie am Ende, ohne es zu merken, die Spielregeln selber erfinden, weil die Karten erst gemischt werden, wenn einer beginnt, ein solches Werk zu realisieren. Proben sind dann schon eine Aufführung. Die Aufführung eine Probe. Nichts wird je wieder so sein, wie es jetzt gerade ist. Schon gar nicht das Stück, das da angeblich gerade erklingt.

Das offene Kunstwerk

Der Gefangene in dem kaputten Schloß ist in Gedanken auf dem Weg zu solch einem offenen Kunstwerk, gerade weil er in jenem Moment, in dem er auf den Glasscherben sein Streichtrio skizziert, ziemlich präzise Vorstellungen davon hat, wie sich die musikalischen Linien, die er da auf drei Notensystemen aufschreibt, zueinander klanglich verhalten sollen. Was er notiert, ist eine Möglichkeit. Ein Klangereignis, das in sich vollkommen logisch ist.

Die Frage, die den jungen Mann über die folgenden Jahrzehnte beschäftigten wird, ist die: Wie kann ich die drei musikalischen Stimmen dazu bringen, sich beim nächsten Mal ganz anders zueinander zu verhalten, ohne daß das Ergebnis dann weniger stimmig wäre? Welche Grenzen muß der Komponist setzen, welche Richtlinien muß er vorgeben, daß das Spiel in freier Schwingung völlig anders abläuft und doch wieder gewonnen wird – und zwar von allen drei Spielern?

So paradox sollte ein wahrer Künstler wohl denken dürfen.

Es gibt keine Fehler

Konsequenterweise lernen seine Schüler von ihm zuallererst, daß sie ihre Angst abwerfen müßten, Fehler zu machen. Denn: „Es gibt überhaupt keine Fehler.“ Jedenfalls sind und bleiben „jene Rätsel am schönsten, die mehrere Lösungen zulassen“. Einem Komponisten soll es um Zusammenhänge gehen, aber um solche, die „sich nie wiederholen werden“, um „Vieldeutigkeit“.

Ein bestimmtes Stück, eine Komposition, ist freilich „immer gleich“, sie muß aber auch „immer anders“ sein. „Dynamisch geschlossene Form“ hieß die Definition dieses handwerklichen Abenteuers. Und der Komponist, der immer etwas Neues hervorbringen muß, kann Neues nur als neue Form denken. Immer geht es um das Erfinden neuer Formen, in sich logisch, aber variabel, eben: dynamisch geschlossen.

Die wahre Innovation

Mochten Komponistenkollegen radikale Innovationen postulieren, die Geigen so verkehrt halten zu lassen wie kein Zweiter vor ihnen, mochten sie jeden Parameter ihrer Musik akribisch berechnen, um ihr im seriellen Wahn jegliche Fantasie auszutreiben. Das mußte doch alles nur zu geschminkten, mehr oder weniger gut übertünchten, vielleicht sogar wirklich verwandelten Neuauflagen älterer musikalischer Modelle führen.

Aber war es nicht eine wirkliche neue Musik, derer das Jahrhundert bedurfte?

Im Gefangenenlager, auf dem schmutzigen Boden sitzend, erträumte sich Roman Haubenstock-Ramati diese „neue“ Musik, die so ganz anders war als alles, was es vorher gab, die neue akustische Balanceakte vollführen und die Zentrifugalkräfte dessen, was Harmonie heißt, in höheren Dimensionen auf die Probe stellen sollte.

Auf der Flucht

Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint, als es ihn zwischen die Glasscherben eines devastierten russischen Schlosses führte. Er als einziger, gerade 20-jähriger Sohn einer musischen jüdischen Familie in Krakau hatte beschlossen, über die Grenze zu gehen, als die Deutschen Polen überrannten. In die „russische Zone“, das mochten die Eltern nicht mitmachen. Die Russen! Das kam nicht in Frage. Dann schon lieber die Deutschen, das war doch immerhin ein Kulturvolk. Hitler hin oder her. Die Haubenstocks bezahlten diesen grimmigen Irrtum mit ihrem Leben. „Die Mutti“, so erinnerte sich der Sohn noch Jahrzehnte später mit Tränen in den Augen, „hat die Befreiung von Bergen-Belsen noch erlebt. Sie ist ein paar Tage danach aus Entkräftung gestorben.“

Ein NS-Soldat gibt Feuer

Der Sohn hat überlebt. Er kannte die bewußte deutsche Kultiviertheit und die Masken, in denen sie daherkam. Als junger polnischer Student durfte er kurz einmal nach Deutschland reisen. Da saß er mit einem jungen Mann in NS-Uniform im Abteil, der zackig aufsprang, um seinem Visavis stramm Feuer zu geben, als dieser umständlich mit seinen Zündhölzern herumnestelte. Kinderstube nennt sich das. Ob dieser Prometheus ahnte, daß seine Höflichkeit einem jüdischen polnischen Studenten galt?

Ein Spion?

Gleichviel. Roman Haubenstock-Ramati ahnte, daß es in Stalins Sowjetunion einen Funken mehr Überlebenschance für Seinesgleichen geben würde – und mißachtete den Rat der Familie, doch lieber in Krakau zu bleiben. Der Hakenkreuz-Stempel, den er für seine Studienreise in seinen Paß bekam, entpuppte sich allerdings als fatal: Die Russen verhafteten den verdächtigen Mann als Spion. Daß er aus dem Gefangenenlager wieder freikam, ist eines der vielen Wunder, die Roman Haubenstock-Ramatis Odyssee in den frühen Vierzigerjahren ermöglichte. Die Alliierten hatten ein Exilantenregiment aufgestellt, das hatte er erfahren, irgendwo in Persien sollte das sein. Bagdad und Palästina waren dann auf abenteuerlichen Pfaden die Stationen der unfreiwilligen Reise.

Paris - Tel Aviv

Unstet blieb Roman Haubenstock-Ramatis Leben dann auch nach dem Krieg; zumindest eine Zeitlang. In Europa war es zunächst Paris, wo er mit den Errungenschaften der musikalischen Avantgarde konfrontiert wurde, der Musique concrète und den ersten elektronischen Experimenten. Tel Aviv wurde dann zum ersten Haltepunkt. Gemeinsam mit seiner Frau beteiligte sich der Komponist rege am Aufbau des israelischen Kulturlebens. Inzwischen erklang seine Musik auch in Deutschland bei den führenden Festivals für Neue Musik, in Donaueschingen zumal, wo man ziemlich bald wußte, daß dieser Mann, der schließlich als Lektor der Universal Edition Wien zu seiner Heimat machen sollte, zu den führenden Köpfen dieser Zeit gehörte. Zu jenen Köpfen, die echte Zukunftsperspektiven zu entwerfen verstanden.

Calders Mobiles

Die visionäre Kraft von Haubenstock-Ramatis musikalischem Denken ließ sich vor allem durch Einflüsse bildender Kunst inspirieren. Die großen Mobiles Alexander Calders hatten es ihm angetan: Als Mobile wollte er auch die Klänge seiner Werke arrangieren, frei schwingend, immer neu zusammengesetzt – und doch in sich unweigerlich durch jeweils klar definierte Kräfteverhältnisse aneinander gebunden.

In kammermusikalischen Klangskulpturen ließ sich das vergleichsweise mühelos realisieren. Doch Haubenstock-Ramati zeichnete und malte – vielfach in „graphischer Notation“ – auch Musik für Orchester, eine Oper gar: Franz Kafkas Romanfragment „Amerika“, in sich schon zerklüftet genug, diente ihm als Vorlage für ein musiktheatralisches Experiment, das bis heute nicht in seiner ganzen Kühnheit erfaßt wurde.

Die Kafka-Oper

Die Uraufführung in Berlin begleiteten das Staunen der Fachwelt und die Schmährufe des Publikums – wie der Kritik, die mit Invektiven nicht sparte. Diese Partitur ist der Entwurf zu einem mehrdimensionalen Musiktheatererlebnis, wie es radikaler bis dato nicht erträumt wurde. Von einer adäquaten Aufführung sind wir mehr als ein halbes Jahrhundert später noch weit entfernt, obwohl den heutigen Bühnen, den Festivals zumal, zahllose technische Möglichkeiten zur Verfügung stünden, die eine Realisierung von Haubenstock-Ramatis Visionen erleichtern würden.

Streichquartette

Es war ein exquisites Ensemble, → das Alban-Berg-Quartett, das noch zu Lebzeiten des Komponisten vorbildliche Wiedergaben von dessen Streichquartetten realisierte, solche, die nicht auf jenem notorischen Behelfsniveau haltmachten, mit dem sich zeitgenössische Komponisten in aller Regel begnügen müssen.

So ist für jene Generation, die den Namen Roman Haubenstock-Ramatis hier vielleicht zum ersten Mal zu lesen bekommt, immerhin eine Möglichkeit gegeben, via Tonaufnahme eine Ahnung von jenen Klangsphären zu erhalten, um deren Erschließung dieser Mann zeitlebens gerungen hat: Es ist eine Sprache der äußersten Zartheit und Verinnerlichung, die hier gesprochen wird, seltsam schwebende, ätherische Klänge, die aber auf rätselhafte Weise beseelt wirken von jenem magischen Schwerpunkt, der das Mobile in Form hält.
So besteht das erste der beiden Streichquartette, vom Alban Berg Quartett maßstabsetzend aufgenommen- aus sieben Abschnitten, in denen vier verschiedene Mobiles (A, B, C und D) in unterschiedlichen Realisierungen präsentiert werden.
Elemente dieses Ersten Streichquartetts konnten Eingang in die Paritur von Quartett Nr. 2 finden und bilden doch innerhalb des neuen Werk-Ganzen völlig neue Klänge heraus.

Formen und Klänge

Die Form war es ja, die es jeweils neu zu erfinden galt, als Trägerin der jeweils neuen Aussage, verschieden von Werk zu Werk, aber auch innerhalb eines Werkes von den Ausführenden jeweils wechselnd realisierbar.

Ein Hörer, der gewillt ist, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, wird, wenn er es einmal geschafft hat, selbst so recht „mitzuschwingen“, bald erkennen, wie folgerichtig auch in diesen ungewohnten Dimensionen Spielanweisungen wie „sehr zart“ und einmal sogar „wienerisch“ sein können.

Der Komponist Karlheinz Essl erlebte einmal, wie der große alte Mann der Neuen Musik das Streichquartett Anton von Weberns analysierte, und war überrascht, daß Haubenstock-Ramati keineswegs von Weberns Strukturmodellen gefesselt war, sondern von den „zarten und zerbrechlichen Klanggebilden“.

Die fand er auf seiner spielerischen Suche nach dem „Unaufspürbaren“ – das weiter auszuforschen er seinen „Interpreten“ aufgegeben hat. Noch scheinen der umtriebigen Neue-Musik-Szene freilich weitaus weniger komplizierte Aufgaben zu genügen . . .



↑DA CAPO