Was das Publikum unter »moderner Musik« versteht, hat sich gründlich gewandelt.
In den ersten Jahrzehnten des XX. Jahrhunderts subsumierte man unter dem Begriff »Moderne« alles, was komponierende Zeitgenossen hervorbrachten, auch das, was späteren Generationen (rettungslos) spätromantisch schien - etwa Richard Strauss, Erich W. Korngold oder Franz Schmidt. Was wir bis heute als »Neue Musik« bezeichnen war für die Zeitgenossen die radikale Avantgarde. Da denken wir bis heute an die sogenannte »Wiener Schule« um Arnold Schönberg. Dazu zählten aber ebenso die großen Russen Strawinsky, Prokofieff und (etwas später) Schostakowitschie, dazu gehörten Paul Hindemith und Béla Bartók, jene Meister also, die man bald als »Klassiker der Moderne« bezeichnete.
Nach der Unterdrückung der künstlerischen Avantgarde durch die Terroregime während des II. Weltkriegs schieden sich dann die Wege radikal: Eine echte Avantgarde, die aufbrach, den Klängen neue Territorien zu erschließen, wobei die »Richtung«, die man einschlug, für die wortführenden Theoretiker um Theodor Adorno nur von den Vorgaben Schönbergs und seiner Schule ausgehen konnte.
Dagegen wendeten sich zahlreiche Komponisten, die sich an Strawinskys oder Hindemiths Neoklassizismus orientierten, oder auch die Franzosen, deren Ästhetik oft durch die Unterhaltungsmusik beeinflußt schien. Im Osten Europas herrschte noch jahrzehntelang der nach dem Tod Stalins zwar gemilderte, aber nach wie vor prägende »sozialistische Realismus«, der wirklich avantgardistische Strömungen brutal unterdrückte.
Subkutan konnte sich hier aber nicht zuletzt im Baltikum eine Musik entwickeln, die nach der Öffnung in den Neunzigerjahren starke Sprengkraft für die sogenannte »Postmoderne« entwickelte: Um die Jahrtausendwende hatte sich die sogenannte »Neue Musik« dann von allen Fesseln befreit und fand sich in einem bunten, Genregrenzen ignorierenden Freiraum, der völlig neue Entwicklugnen ermöglicht.
WEGE ZUR »NEUEN MUSIK«
Die Eroberung der vielen Territorien der Musik des XX. Jahrhunderts kann eine spannend akustische Zeitreise sein. Tipps für Neugierige.
Die »Wiener Schule«
Die Eröffnung neuer, abenteuerlicher Klangwelten ereignete sich durchaus fließend. Arnold Schönbergs Stil basiert auf einer natürlichen Weiterentwicklung der Klangwelten Richard Wagners. Das Frühwerk klingt absolut spätromantisch, klangsinnlich.
»Verklärte Nacht«
Herbert von Karajan Berliner Philharmoniker (DG)
Einer der großen Momente der Aufnahmegeschichte. Karajan fächert den Streicherklang der Berliner Philharmoniker auf und läßt ihn in allen Farben schillern und flirren - Dehmels erotisches Gedicht wird hier zu expressivem Klang. Moderne? Einfach leidenschaftliche, schöne spätromantische Musik.
Mit der Erschließung eines großzügigeren harmonischen Raumes, in dem die Anziehungskräfte tonaler Zentren nur noch ahnungsweise spürbar werden, konzentrieren sich die Formen. Die Stücke werden kürzer. Kurz und klar läßt sich das an der Ersten Kammersymphonie Arnold Schönbergs studieren.
Kammersymphonie
Sony Pierre Boulez
Ein Werk wie die Erste Kammersymphonie nimmt sich geradezu programmatisch für die Ideen der »Moderne« aus. Die vier Sätze einer klassischen Symphonie erscheinen zusammengerafft in einem großen Sonatensatz - nach dem Vorbild der bahnbrechenden Klaviersonate von Franz Liszt (deren Muster wiederum Schuberts Wanderer-Fantasie gewesen ist!). Schönbergs Kammersymphonie steht nominell noch in E-Dur, doch wechseln die Gravitationszentren oft atemberaubend schnell. Doch erleichtert die motivische Arbeit an sehr prägnanten Themen - in einer transparenten Darstellung wie jener von Pierre Boulez - das Verfolgen des »Gangs der Handlung«, der zuletzt in eine regelrechte Apotheose mündet wie eine Bruckner-Symphonie.
Freilich alles im Miniaturformat, gespielt von einem kleinen Kammerensemble.
Igor Strawinsky
Der Picasso der neuen Musik, radikal, aber höchst beliebt.
Der Feuervogel
Decca/Pristine Leopold Stokowski
Nicht zuletzt die höchst einflußreichen, wenn auch höchst problematischen kulturphilosophischen Überlegungen Theodor W. Adornos haben eine Zeitlang die polystilistischen Errungenschaften Igor Strawinskys wie eine gigantische Gegenthese zu Schönbergs Wiener Schule erscheinen lassen. Tatsächlich spiegeln sich im Schaffen Strawinskys die vielfach gebrochenen Entwicklungsstränge der musikalischen Moderne wie die jüngere Kunstgeschichte in den Werken Pablo Picassos - mit dem Strawinsky einige Male sogar erfolgreich zusammengearbeitet hat.
Um die Klangsprache Igor Strawinskys kennenzulernen, taugt die Feuervogel-Musik am besten. Hier zeigt sich noch der gelehrige Schüler des Klangmagiers Nikolai Rimskij-Korsakow, der ein russisches Märchen mit einem Prinzen, einer gefangenen Prinzessin, einem zauberisch-hilfreichen Vogel und einem bösen Hexenmeister in allen orchestralen Märchenbuchfargen zu illustrieren versteht. Der wilde Rhythmiker Strawinsky bricht sich im Höllentanz des bösten Kastschei dann auch noch Bahn - und das Publikum swingt begeistert mit. Keiner hat all das so farbenfroh und schillernd zum Klingen gebracht wie Leopold Stokowski.
Eine der faszinierendsten Orchesteraufnahmen aller Zeiten!
Béla Bartók
Revoluzzertum einerseits, liebevolle Erforschung der Volksmusik andererseits - Béla Bartók verstand beide Eigenschaften erfolgreich zu vereinen und wurde vom Bürgerschreck zum »Klassiker der Moderne«
Konzert für Orchester
RCA (Sony) Fritz Reiner
Bartóks Schaffen erschließt sich der neugierige Hörer am besten vom Spätwerk her, in dem der große ungarische Meister der Moderne durchaus Kompromisse einging, um das Publikum im amerikanischen Exil für sich zu gewinnen. Mit dem Konzert für Orchester gelang ihm ein zündendes Orchesterwerk, das zwar alle Elemente seines unverwechselbaren Stils enthält, sie aber durchaus in Rückbezug auf die altgewohnte Dur-Moll-Tonalität präsentiert. So entstand eines der effektvollsten Werke des XX. Jahrhunderts, von dem aus man sich dann problemlos → schrittweise der »Modernität« von Bartóks Frühwerken annähern kann.
Paul Hindemith
In den Zwanzigerjahren flüchtete das Publikum vor seiner Musik, 20 jahre später nannten ihn die Avantgardisten altmodisch und verstaubt. Sehr zu unrecht, denn er hat einige der mitreißendsten Stücke der gemäßigten Moderne komponiert
»Die Harmonie der Welt«
Jegenij Mrawinsky Leningrader Philahrmoniker
Von Hindemith gibt es alless: Bürgerschreckmusik aus den Zwanzigerjahren, groß aufrauschende Symphonik aus den Dreißigern - und ein rätselhaft faszinierendes Spätwerk. Langweilig wird diese Musik jedoch nie, wenn die rechten Interpreten am Werk sind.
Die aufmüpfigen Franzosen
Nirgendwo trieb die musikalische Avantgarde buntere Blüten als in Paris. Dort gab es einen Avantgardisten wie Olivier Messiaen ebenso wie Vorkämpfer einer frechen, an die Unterhaltungsmusik angelehnten Moderne, die heftigsten Widersprüche unter einem Dach: Satie, Poulenc, Milhaud . . .
»Les mariées de la tour Eiffel«
Georges Prêtre Philharmonia Orchestra
Rußland zu Stalins Zeiten
Swjatoslaw Richter
Schostakowitsch Präludien und Fugen (Hänssler)
Die russische Musik zur Zeit Stalins war - ebenso wie die deutsche Kultur während des NS-Regimes - von enormen Repressionen durch die Partei in eine Zwangsjacke gesteckt.