HANS PFITZNER

Späte Romantik und formale Phantasterei

Hans Pfitzner war der Querkopf unter den deutschen Spätromantikern. Zu Lebzeiten galt er vielen Kennern als mindestens so bedeutend wie Richard Strauss. Doch späteren Generationen sahen in ihm – auch dank mancher seiner Streitschriften gegen die musikalische Moderne – einen unzeitgemäßen, zuletzt rettungslos altmodischen verspäteten Romantiker, der notabene den Werbungen der Nationalsozialisten nicht widerstehen konnte.
Damit spielt man freilich auf den späten Pfitzner an, der längst verbittert auf die Erfolge der musikalischen Avantgarde, aber auch auf jene von Komponisten wie Strauss, Korngold oder Schreker blickte. Daß er die beiden Letztgenannten nicht ungern im „Dritten Reich“ auf der Liste der „entarteten Künstler“ sah, soll nicht verschwiegen werden.

Die Rose vom Liebesgarten

Als Opernkomponist hatte Pfitzner freilich noch vor Strauss und lang vor Schreker oder gar Korngold Karriere gemacht. Wie Strauss (mit „Guntram“) begann auch er als Wagner-Epigone (mit „Der arme Heinrich“), fand aber mit der „Rose vom Liebesgarten“ zu durchaus originellen Klangwelten, die zum Teil inspirierend auf Kollegen wie Gustav Mahler wirkten, der das Werk als Direktor an der Wiener Hofoper herausbrachte – und manche Anregung harmonischer und instrumentierungstechnischer Art übernahm.
Außerordentliche Klangphantasie beweisen etwa das sogenannte „Blütenwunder“ im Vorspiel, aber auch der Beginn des Werks mit charismatisch-changierenden Färbungen einzelner Töne – sie brachten dem Werk unter Orchestermusikern den Spitznamen „Tausenfisler“ ein.

Die greifbaren Aufnahmen dieser textlich (James Grun) krausen, musikalisch aber hochbedeutenden Oper lassen deren Qualität leider nicht einmal ahnen, die alte Rundfunkproduktion mit Trude Eipperle und Bernd Aldenhoff unter Robert Heger ist technisch, der Livemitschnitt aus Chemnitz (cpo) künstlerisch unzulänglich.

Palestrina

Als Hauptwerk Pfitzners gilt der „Palestrina“, ein bedeutender Beitrag zum Genre Künstlerdrama im XX. Jahrhundert. Der selbstgedichtete Text zeigt den Komponisten der „Missa Papae Marcelli“ den Ränkespielen der geistlichen und weltlichen Politik ausgesetzt.
Der Legende nach rettete Giovanni Pierluigi Palestrina mit der Komposition tatsächlich die mehrstimmige Kirchenmusik, die auf der „Abschußliste“ des Tridentinischen Konzils stand. Das ist zwar historisch unhaltbar, dient Pfitzner aber als Metapher für den opferbereiten Künstler, der alles Private seiner Berufung hintanzustellen hat.
Einige Szenen des Werks, vor allem die Auseinandersetzung zwischen Palestrina und seinem Unterstützer, dem Kardinal Borromeo, aber auch die Inspirations-Szene im Finale des ersten Aufzugs, in dem himmlische Chöre nach einer visionären Konfrontation mit großen Komponisten-Vorbildern, die Palestrina an seinen schöpferischen Auftrag erinnern, die Messe „eingeben“, gehören zu den starken Momenten des „modernen“ Musiktheaters.
Pfitzner bringt hier seine ureigenste Überzeugung von der Kraft der künstlerischen Inspiration auf die Bühne. Der große Ernst der Arbeit und die tatsächlich über weite Strecken hochinspirierte Musik machen „Palestrina“ tatsächlich zu einem der bemerkenswertesten Musikdramen der Spätromantik.
Die Uraufführung in München 1917 unter Bruno Walters Leitung schien den Rang Pfitzners eindrucksvoll zu bestätigen. In München und Wien war das Werk über Jahrzehnte hin fixer Teil des Spielplans. In Salzburg kam es 1953 sogar zu einer Festspielproduktion mit dem ausdrucksstarken Max Lorenz in der Titelpartie.
In der jüngeren Vergangenheit führte das Werk allerdings ein Schattendsein. Neuinszenierungen in Wien (szenisch besonders mißraten) und München verschwanden jeweils rasch von den Spielplänen.
Am eindrucksvollsten geriet eine Produktion Nikolaus Lehnhoffs, die unter Christian Thielemanns liebevoller musikalischer Leitung in London und New York zu erleben war.

Näheres zu "Palestrina"

Die herausragenden Interpretationen von Pfitzners Chef d'OEuvre → Zum Kennenlernen taugt nach wie vor am besten die aufnahmetechisch perfekte Aufnahme des Bayerischen Rundfunks unter Rafael Kubelik mit Nicolai Gedda und Dietrich Fischer-Dieskau in den Hauptpartien.
Tiefere Eindrücke vermittelt der Salzburger Festspielmitschnittmit Max Lorenz in der Titelpartie und vor allem Paul Schöffler als Borromeo. Die Aufführung war insgesamt exquisit besetzt und von Rudolf Kempe exzellent dirigiert; wer also die notorischen Imponderabilien eines alten Livemitschnitts auszublenden imstande ist, wird hier von kundigen Sachwaltern in Pfitzners Welt eingeführt.
Was die Rollengestaltungen von Titelpartie und Borromeo betrifft, kommt man – freilich unter ähnlichen „Live“-Bedingungen – nicht um den Livemitschnitt unter Robert Heger herum, der Julius Patzak an der Seite von Hans Hotter hören läßt; ein unschlagbares Duo!
Für eine Einführung in Pfitzners unverwechselbare, herbe, oft als geradezu knorrig empfundene Klangwelt dienen die drei großen Vorspiele zu den einzelnen Aufzügen des Musikdramas, die der Komponist selbst zu einer symphonischen Suite zusammenfaßte. Die beiden ruhigen, verklärten Seelenportraits Palestrinas umrahmen den heftig bewegten Einleitungssatz zu den karikaturhaft zugespitzten Szenen des Konzils. Hier gibt es vor allem einen (wiederum aufnahmetechnisch nicht idealen, aber künstlerisch singulären) Mitschnitt einer Aufführung durch die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler, Dokumente tief empfundenen, hochexpressiven Orchesterspiels.

Pfitzner als Symphoniker ist im Bewußtsein der Musikfreunde noch viel weniger präsent als der Opernkomponist. Das ist bedauerlich, denn gerade im Konzertsaal ließe sich beweisen, daß dieser Meister es geschafft hat, die Klangsprache der Spätromantik mit einem durchaus "modernen" Zugriff auszuweiten und ihr neue Räume zu erschließen. Vor allem in formaler Hinsicht entpuppt sich Pfitzner zuweilen als einer der Ahnherrn der Postmoderne. Werke wie das Violinkonzert sind von beinahme anarchischem Zuschnitt.

Pfitzners Symphonien und Konzerte Wilhelm Furtwänglers glühende Aufnahme der "Palestrina"-Vorspiele vermittelt auch einen Einddruck vom Instrumental-Komponisten Pfitzner, der seine ganz eigene, unverwechselbare Sprache spricht; auch dort, wo er klassische Formen für seine Zwecke adaptiert: Furtwängler hat auch eine kraftvoll pulsierende Aufnahme von Pfitzners später, klassizistischer, die einzelnen Sätze pausenlos zusammenfassenden C-Dur-Symphonie vorgelegt. Als Symphoniker hat der Komponist im übrigen lediglich mit einem Orchester-Arrangement seines groß angelegten Streichquartetts in cis-Moll ein Dokument seines oft phantastisch wuchernden spätromantischen Stils vorgelegt, eine schier wild wuchernde, erzählmächtige Partitur, die Christian Thielemann mit seiner Staatskapelle Dresden atemberaubend dicht und dramatisch realisiert hat.
Thielemann hat mit Tzimon Barto auch das viersätzige Klavierkonzert Pfitzners eingespielt, dessen formale Bizarrerien vom Violinkonzert noch weit übertroffen werden. Dieses Werk führt uns rhapsodisch, scheinbar völlig frei einem inspirativen Ariadnefaden folgend durch ein tönendes „Fantasyland“, in dem jenseits jeglicher klassischer Formgebung Überraschung auf Überraschung folgt. (Gerhard Taschner und Rudolf Kempe musizieren im Livemitschnitt von 1955 auf Archipel mit der rechten Abenteuerlust.)

Nach Hugo Wolf und neben Richard Strauss darf man Pfitzner auch als den letzten Großmeister des romantischen Klavierlieds ansprechen. Einmal verdichtete der Komponist seine Eichendorff-Vertonungen zu einer beeindruckenden Kantate, "Von deutscher Seele", die zu einem der bedeutendsten oratorischen Werke des frühen XX. Jahrhunderts zählt.

Kantaten, Lieder, Märchenoper Ein Kaleidoskop von Eingebungen in schlichter Liedform und weit gespannten, poetischen Phantasien ist die Kantate „Von deutscher Seele“ (1922) nach Gedichten von Joseph von Eichendorff. Sie enthälteinige von Pfitzners bewegendsten Liedvertonungen, vor allem den unwirklich schönen „Alten Garten“. Das Werk liegt in einer grandiosen Einspielung mit Agnes Giebel, Hertha Töpper, Fritz Wunderlich und Otto Wiener unter Joseph Keilberth (DG) vor. Diskographisch am besten dokumentiert ist, was die interpretatorische Qualität anlangt, das Liedschaffen Pfitzners, dem cpo eine feine Gesamtedition (mit Julie Kaufmann, Christoph Pregardien und Andreas Schmidt) gewidmet hat, von dem aber einzelne Nummern in exzellenten Wiedergaben durch Sänger von Lotte Lehmann, Erna Berger, Hans Hotter und Dietrich Fischer-Dieskau bis Walter Berry, Robert Holl, Hermann Prey, Christiane Karg oder Juliane Banse existieren.

Als liebenswertes Dokument von Pfitzners eigenwilligem Humor kann die Weihnachtsoper „Das Christelflein“ gelten, von der eine herzhaft musizierte Aufnahme des Bayerischen Rundfunks mit der glockenhellen Sopranstimme von Helen Donath unter Kurt Eichhorn vorliegt.(cpo)

Palestrina mit Julius Patzak und Hans Hotter, ein Dokument der besonderen Art: der agieren Singschauspieler mit ihren Stimmen und zeichnen berührende Charakterportraits. (Myto)

Der Livemitschnitt von den Salzburger Festspielen lässt mit Max Lorenz und Paul Schöffler ein nicht minder grandioses Gestalter-Duo hören. Rudolf Kempe dirigiert meisterlich. (Walhalla)

Von den jüngeren Produktionen wurde Christoph Stückls Münchner Neuinszenierung sogar für DVD mitgeschnitten, szenisch nicht wirklich bedeutend, aber immerhin eine Gelegenheit, das Werk halbwegs kennlernen zu können. (Medici Arts)

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