Symphonie Nr. 10

Hans Werner Henze (2003)

Seine Zehnte sei, so meinte Hans Werner Henze einmal gesprächsweise, Eine Sinfonie wie ein Portrait. Und der Portraitierte - zumindest im ersten Satz - ist der Dirigent Simon Rattle, der den Komponisten einmal im Rahmen eines abendlichen Essens in ein angeregtes Gespräch verwickelte, um ihm zu schildern, wie er sich das nächste große Orchesterwerk Henzes vorstellte.

»Da war gar keine Eitelkeit dabei«, gab sich Henze später begeistert. Die Lebhaftigkeit von Rattles Schilderungen brachte im Komponisten vielmehr einiges an Fantasie zum keimen. Daraus enstand zunächst der erste Satz der neuen Symphonie, die tatsächlich zu einem musikalischen Portrait des Dirigenten wurde.

Die Zehnte knüpfte dann insgesamt wieder an die drei- bzw. viersätzigen Symphonien aus früheren Schaffensperioden an, die in der Nachfolge der großen symphonischen Tradition stehen. Die ersten entstanden in den Fünfzigerjahren, bevor der Komponisten dem bildungsbürgerlichen Musikbetrieb für einige Jahre adieu sagte, um »engagierte« Musik zu schreiben. Dieser Phase gehört die einsätzige, in Kuba komponierten Sechste Symphonie an.

Mit seiner Siebenten kehrte Henze in den Neunzigerjahren wieder zur großen symphonischen Form zurück. Sie ist von Hölderlin inspiriert, wie die folgende Achte Portraits von Gestalten aus Shakespeares Sommernachtstraum enthält.

Die Neunte mit Chor gehörte dann wieder dem politisch engagierten Hans W. Henze. Sie ist »den Helden und Märtyrern des deutschen Anti-Faschismus« zugeeignet und basiert auf Texten aus Anna Seghers' Das siebte Kreuz.

Den Tonfall der Siebenten mit ihren in dicken Pinselstrichen gemalten, viele kleinteilige Prozesse überlagernd vereinigenden Klangbildern nimmt dann die Zehnte wieder auf.

Vor allem für den ersten Satz nannte Henze in Verbindung mit dem Charakter Simon Rattles die Begriffe »Luzidität, Transparenz, Feingefühl:«
So habe ich beim Entwerfen von Nr. 10 an Simon gedacht als an einen Luzifer, an die Kunst eines Raffael, als an einen Menschen mit einem rein-eleganten, englischen Köpfchen, mit feinsinnigen Händen und dem Sensorium eines in die Welt verliebten Modernen.»

Diese Gedanken, so meinte Henze, waren ihm gerade recht gekommen, um sein symphonisches Lebenswerk nicht mit der dunkel-pessimistischen Neunten beenden zu müssen.

Stilistisch steht die Zehnte dem üppig-märchenhaften, oft ganz leichten Tonfall der späten Oper L'Upupa nahe, die fast gleichzeitig entstand.

Den zweiten Satz bezeichnete Henze als Lobgesang an einen Menschen, an die Natur, an ihren Schöpfer. Ungewöhnlich genug für einen den Kommunisten nahestehenden Komponisten, spät im Leben doch auch den - nach seinen Worten - wie auch immer gedachten und tätigen Schöpfer mitzudenken.

Die Absenz politisch einer konnotierten Programmatik hat viele Kommentatoren irritiert. Worauf Henze antwortete:
Der Mensch bewegt sich, er verläßt seinen Standort um zu einem anderen zu gelangen. Er muß es tun, wenn er nicht verblöden oder erfrieren will. Nachdem ich mich jahrzehntelang mit der Thematik des musikalischen Realismus auseinandergesetzt habe und nun auf die 80 zugehe, dürfte ich nicht doch um die Erlaubnis bitten, mich von meiner bisherigen Welt ein wenig zu distanzieren, um andere Sachen zu machen, solche, die ich noch machen zu müssen glaube? Auch wenn sie nichts mit dem Zeitgeschehen zu tun haben, zu dem mir leider nichts mehr einfällt.


→ Das verratene Meer


↑DA CAPO