Streichquartett D-Dur
Arnold Schönberg (1900)
Eines der ersten Stücke der bis 1900 dauernden Lehrzeit bei Alexander von Zemlinsky war Arnold Schönbergs Streichquartett in D-Dur aus dem Jahr 1897. Es zählt zu den frühesten vollendeten Werken des Komponisten.
Hier ist der spätere Revolutionär noch ganz im Bann der Hochromantik und orientiert sich hörbar sogar an Antonín Dvořák, mit dessen Musik man Schönbergs späteres Schaffen kaum je in Verbindung bringen kann.
Vorbilder
Doch ist die Anlehnung an den tschechischen Komponisten nicht so erstaunlich, wie es ein Jahrhundert später aus veränderter Perspektive anmuten mag. Dvořák war, von Johannes Brahms gefördert, eine der herausragenden Figuren des musikalischen Lebens des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts. Auch bei Gustav Mahler, der Dvořáks späte Werke mit Vorliebe dirigiert hat, finden sich wiederholt Anklänge an Werke des älteren Kollegen. Nicht zuletzt die Tondichtungen, die Dvořák im Gefolge der Neudeutschen Schule Franz Liszts nach Fertigstellung seiner Neunten Symphonie, der vielgespielten Symphonie aus der Neuen Welt, komponiert hat, gaben in ihrer zum Teil erstaunlich avancierten Orchestersprache Vorbilder für spätere Erkundungstouren in musikalisches Neuland ab. Das steht im Widerspruch zu der heutigen Bewertung Dvoráks als traditionalistischer, dem folkloristisch verbrämten Zeitstil verpflichteten Künstler - der findige Produzent der Slawischen Tänze eben. Für dieses Urteil trägt freilich die Rezeptionsgeschichte ein gerüttelt Maß an Verantwortung. Vieles vom fortschrittlichen Dvořák bleibt im Konzertgebrauch unaufgeführt. Daß gerade ein bis an die Grenze des Zitats gehender Anklang an Dvoraks Amerikanisches Quartett am Beginn des Werks Arnold Schönbergs steht, muß also nicht als Kuriosität gewertet werden. Die Parallele bleibt in dem D-Dur-Streichquartett des 22jährigen Schönberg kein Einzelfall. Auch der Final-Satz tönt in etlichen Passagen wie ein Verwandter des Dvořákschen Opus 96. Viel weniger verwunderlich scheint dem Betrachter wohl, daß es im Variationensatz bärbeißig nach Brahms klingt. Die Verehrung, die Schönberg Brahms entgegenbrachte, ist nicht nur auf Grund des Aufsatzes Brahms, der Fortschrittliche aktenkundig.
Sogar Anton Bruckner – die charakteristischen Vorschläge aus dem zweiten Satz des Streichquintetts – stand für einige Figuren im Scherzo-Satz Pate. Daß Schönbergs D-Dur-Quartett, seinem freundlich zugänglichen Ton zum Trotz, nicht zu den Zugstücken des Repertoires zählt, ist angesichts solch auffälliger Hörparallelen nicht verwunderlich. Was dem Werk fehlt, ist die unverkennbare Handschrift
Noch bewegt sich der spätere Meister unsicher, nach vielen Richtungen schielend im unerforschten Terrain. Zu erkennen sind allerdings mehr als nur Bemühungen eines offenkundig talentierten Nachwuchskünstlers: Wenn er auch keine kompositorischen Trouvaillen anzubieten hat, so versteht es der junge Schönberg, den formalen Mustern, die er sich zum Ziel gesetzt hat, stimmig zu folgen. Sonatensatz oder Variation erfüllen alle Anforderungen, wenn nicht originell, so doch mustergültig.
Wie weit für die qualitativ einwandfreie Gestaltung der Komposition die Führung durch Alexander Zemlinsky ausschlaggebend war, kann nicht festgemacht werden.
Erste Versuche
Schönberg hatte ursprünglich zwei Quartettsätze komponiert, diese jedoch nach eingehenden Analysen unter Zemlinskys Anleitung vollständig umgearbeitet. Die Urfassungen jedoch, die für die Bewertung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses äußerst aufschlußreich wären, sind nicht erhalten.
Zemlsinkys Quartett Nr. 1
Interessant ist jedenfalls die Gegenüberstellung von Schönbergs Stück mit dem ein Jahr vorher entstandenen Ersten Streichquartett (op. 4) von Zemlinsky, das deutlich die Anlehnung an Johannes Brahms erkennen läßt. Zemlinsky hatte Brahms Mitte der neunziger Jahre kennengelernt und dem Älteren dieses Stück zur Begutachtung vorgelegt. Brahms‘ Verleger Simrock brachte sowohl das Klaviertrio op. 3 als auch das Quartett aus Zemlinskys Feder heraus, was ohne Brahms‘ Fürsprache wohl kaum denkbar gewesen wäre. Anders als im Falle von Schönbergs Gesellenstück lassen sich im ersten der vier Zemlinsky-Quartette hier und da Passagen selbständigsten Zuschnitts ausmachen; nicht zuletzt die geradezu anarchistischen Momente, die im Adagio die klassizistische Fassade zum Einsturz bringen.
Wiederentdeckung
Derlei Eigenwilligkeiten wird man im D-Dur-Quartett Schönbergs vergeblich suchen. Das Stück war dem Konzertgebrauch lange entzogen und ist erst dank der verdienstvollen Schallplatten-Einspielung durch das La Salle Quartett wieder zu Ehren gekommen. Mittlerweile haben sich etliche Ensembles dieser Komposition angenommen, unter anderem das Wiener Artis-Quartett.
Frühfassung des Scherzos
Eine Gesamtaufnahme des Pierrot lunaire von 1995 mit dem „Ensemble avantgarde“ unter Hans Zender ist wiederum mit einer Einspielung des Scherzo-Satzes in F-Dur gekoppelt, der ursprünglich für das D-Dur-Quartett vorgesehen war und anläßlich einer Revision, die Schönberg an seinem Quartett-Erstling vornahm, ausgetauscht wurde. Im ursprünglichen Scherzo-Satz orten Interpreten auch Mahler-Anklänge, was den Eindruck eines ungefestigten Stilgemischs noch verstärkt.
Uraufführung
Unsicher ist auch, ob die auf Anregung Zemlinskys zustandegekommene Uraufführung durch Mitglieder des Wiener Tonkünstler-Vereins im Jahr 1897 noch die ursprüngliche Gestalt des Werkes vorstellte.
Einige Monate später erklang, gespielt vom Fitzner-Quartett, einer der besten unter den damaligen Wiener Kammermusikvereinigungen, jedenfalls die revidierte Fassung.