Beginn des Quartetts Nr. 1 (Manuskript)

Komponierte Ehekrise

Arnold Schönbergs Streichquartette Nr. 1 und 2

Das Frühjahr 1907 brachte zwei katastrophale Konzert-Premieren von neuen Schönberg-Kompositionen: Das Erste Streichquartett und die Kammersymphonie wurden vom Publikum gnadenlos ausgepfiffen und von der Presse vernichtet. Die kulturpolitische Auseinandersetzung um die neuen Klangwelten, die Arnold Schönberg erschloß, traten nach zögerlichem Beginn in ihr kritisches Stadium.
Der vielzitierte Zeitungsbericht über die Uraufführung der Kammersymphonie liest sich wie eine beängstigende Vorwegnahme nationalsozialistischer Hetzartikel und lehrt, daß deren Vokabular mit all der willkürlichen Vermengung politischer und kulturhistorischer Betrachtungen Jahrzehnte früher bereits vorgebildet waren:

Viele stahlen sich vor Schluß dieses Stückes lachend aus dem Bund, viele zischten und pfiffen, viele applaudierten. Schließlich kam Herr S. selber und schüttelte den 15 Mitwirkenden gerührt die Hand. In einer Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen der Herr Hofoperndirektor Gustav Mahler, der das hohe Protectorat über entartete Musik schon seit längerer Zeit führt.
Festzustellen wäre nur das Eine: Herr S. ereignet sich in Wien. in der Hauptstadt ewiger und unvergeßlicher Musik. Tut‘s niemandem mehr weh, daß gerade hier die pöbelhaftesten Manieren, Lärm zu machen, heimisch geworden sind? Er macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann. Aber der Spuk wird vorübergehen; er hat keine Zukunft, kennt keine Vergangenheit, er erfreut sich nur einer sehr äußerlichen, armseligen Gegenwart.

Dem Ersten Streichquartett erging es nicht besser. Gustav Mahler, der einen der wütenden Schönberg-Gegner zur Rede stellten wollte, lief Gefahr, von diesem geohrfeigt zu werden. Carl Moll soll das, dem Zeugnis Alma Mahlers zufolge, im letzten Moment verhindert haben.

Ehekrise - geheime „Programme“

Aber den äußeren Katastrophen, denen Schönberg ausgesetzt war, gesellte sich die innere hinzu: Auch sein Privatleben zerbrach in diesen Jahren. Und dieses Zerbrechen hatte unmittelbare Auswirkungen auf sein künstlerisches Schaffen.
Schon dem Erste Streichquartett lag ein geheimes Programm zugrunde, das von seelischen Nöten und Zerrüttung kündet. Die zahlreichen Analysen, die das Werk als absolut-musikalische Reaktion auf klassische Vorbilder - namentlich auf Ludwig van Beethoven - zurückzuführen trachten, lassen die dramatische Komponente der Musik unbeachtet. Man versucht, Schönberg auf jene bedeutsame Position zu reduzieren, die er in der Musikgeschichte einnimmt und verschleiert - bewußt oder unbewußt -, daß vieles in seinem Werk biographische Bezüge erkennen läßt.

Quartett Nr. 1 d-Moll

Hatte die aufkeimende Liebe zu Mathilde Zemlinsky ganz offenkundig zur Entstehung der Verklärten Nacht geführt, so können die beiden ersten Streichquartette als Protokolle von Krisen gehört werden. Und die Annahme, daß diese Krisen etwas mit der zerrütteten Ehe Schönbergs mit Mathilde zu tun haben könnten, ist im Falle des Ersten Quartetts vielleicht Spekulation, im Falle des Zweiten aber mit großer Sicherheit belegbar.
Für das d-Moll-Quartett fand Christian Martin Schmidt in den Skizzenbüchern der Jahre 1904/05 eindeutig programmatische Aufzeichnungen des Komponisten, die schon für die ersten Takte des Werks heftige seelische Konnotationen der Musik bezeugen:


„Auflehnung, Trotz, Sehnsucht, Begeisterung“ zeichnen die ersten Motive. Auf „Gedrücktheit, Verzweiflung“ folgen bald „ungewohnte Liebesgefühle“ und später „Trost, Linderung (Sie und er)“.
Das Quartett schildert also jedenfalls eine Liebesbeziehung, die, wie die späteren Eintragungen beweisen, zunächst innig und einträchtig verläuft, in „höchsten Sinnenrausch“ mündet, dann aber eine verzweifelte Wendung nimmt. Die Liebenden trennen sich.
Der letzte Abschnitt der Komposition behandelt dann die „aufsteigende Sehnsucht nach den verlassenen Lieben, übergehend in Verzweiflung über den denen angethanen Schmerz“. Ein „Traumbild“, das die Verlassenen zeigt, „jeden nach seiner Art über den Entfernten trauernd, an ihn denkend, auf sein Wiederkommen hoffend“ führt die Wende herbei. Das Quartett endet mit „Heimkehr, freudiger Empfang, stille Freude und Einkehr von Ruhe und Harmonie“.


Quartett Nr. 2 fis-Moll

1. Mäßig (moderato)
2. Sehr rasch
3. Litanei. Langsam
4. Entrückung. Sehr langsam

Für das Zweite Streichquartett ist eine solche schriftliche Programmnotiz zwar nicht überliefert. Dafür sprechen die Umstände eine deutliche Sprache. Das fis-Moll-Quartett op. 10 steht in jeder Hinsicht an einem Scheidepunkt in Schönbergs Entwicklung.
Die Rückkehr zum klassischen Schema der vier Sätze ist nur eine oberflächliche Anlehnung an Vorbilder. Schon die Tatsache, daß hier erstmals eine Singstimme zu den vier Streichinstrumenten hinzutritt, rückt das Werk in die Nähe der Bekenntnismsuik Gustav Mahlerscher Prägung, die höchst außermusikalische Botschaften in symphonischem Gewand transportieren will und dazu der Textworte bedarf.
Schönberg nimmt diese Attitüde an und setzt nach den beiden rein instrumentalen ersten Sätzen zwei Gedichte von Stefan George, Litanei und Entrückung, in Musik. Aber die programmatischen Konnotationen reichen tiefer in die musikalischen Substanz. Viel diskutiert wurde die Hereinnahme des Wiener Volkslieds O du lieber Augustin, alles ist hin in den zerklüfteten zweiten Satz.
Dieses Alles ist hin muß, wie der Komponist selbst in späteren Jahren immer wieder betont hat, nicht ironisch, sondern in eigentlicher Bedeutung verstanden werden. Schönbergs Schülerin Dika Newlin hat diesen Ausspruch aus einer Unterrichtsstunde überliefert, die Schönberg-Literatur seit Willi Reich nimmt ihn willig zur Kenntnis und übernimmt auch Newlins Diktum vom geheimen Programm, ohne aber näher auf mögliche biographische Bezüge einzugehen. Wo die Parallelen gezogen werden, relativiert und verharmlost man sie – etwa als grob pauschalierende Sicht.

»Alles ist hin«

Es blieb dem Kunsthistoriker Otto Breicha vorbehalten, die Fakten ungeschminkt aufzuzeigen: Die Ehe Schönbergs mit Mathilde Zemlinsky war unglücklich und spätestens seit der komplizierten Schwangerschaft vor der Geburt des Sohnes Georg, 1906, in eine Krise geraten. Und sie ging spätestens im Sommer 1908 in die Brüche, als der Komponist Mathildes Verhältnis mit dem Maler Richard Gerstl entdeckte.
Es war ein doppelter Betrug - als wollte die Realität ein Satyrspiel auf die im Ersten Streichquartett dargestellten zwischenmenschlichen Beziehungen inszenieren. Gerstl zählte seit etwa 1906 zum engeren Freundeskreis des Komponisten. Zwischen den beiden Künstlern entwickelte sich bald ein enges Vertrauensverhältnis. Vielleicht erkannten sie ihre Seelenverwandtschaft, die bald künstlerische Früchte trug.

Die Gerstl-Affaire

Schönberg, vielseitig begabt, wandte sich in jenen Jahren der Malerei zu und schuf just in den Jahren des ständigen Kontakts mit Gerstl einen großen Teil seiner bekanntesten Gemälde und Zeichnungen. Schönberg versuchte später das künstlerische Verhältnis sogar so darzustellen, daß Gerstl nicht nur aus seinen musikalischen, sondern vor allem aus seinen Errungenschaften als Maler Kapital geschlagen habe: Angesichts von ersten Malversuchen Schönbergs soll Gerstl gemeint haben, er hätte jetzt erst eingesehen wie man malen muß . . .
Sicher ist, daß sich die Auflösung des Gegenständlichen in Gerstls Kunst und die Auflösung der Tonalität in Schönbergs Musik etwa zum gleichen Zeitpunkt ereignen. Und daß die persönlichen Verstrickungen mit größter Wahrscheinlichkeit ihren Anteil daran haben. Im Sommer 1908 reist Gerstl zum zweiten Mal mit der Schönbergfamilie in die Sommerfrische nach Gmunden. Er hat die Familie in diesem Sommer auch porträtiert. Das Gemälde dringt so weit in abstrakte Regionen vor, daß es Kommentatoren zu Zeiten sogar für eine Skizze hielten, was Otto Breicha mit dem Verweis, daß der Maler sein Werk signiert hat, als Irrtum entlarvt.

Familie
Richard Gerstls Schönberg-Portrait
(»Die Familie Schönberg« 1907, Ausschnitt)

Gerade die Figur, die Arnold Schönberg darstellt, ist mit seltener Brutalität behandelt, ja, sie wird mit gewalttätigen Pinselstrichen und -schlägen geradezu »ausgelöscht«. Es war derselbe Sommer, in dem Schönberg Mathilde und den Maler in flagranti ertappen sollte.
Es war auch derselbe Sommer, in dem Schönbergs letzte Hand an sein Zweites Streichquartett legte. Daß in den Scherzosatz mit zynischem Lachen der liebe Augustin hereingrölt, kann also ungeschminkt auf die Katastrophe bezug nehmen: Gerstl und Mathilde flohen aus Gmunden nach Wien und ließen Schönberg mit den beiden Kindern zurück.
Daß der Quartettsatz bereits am 27. Juli 1908 vollendet worden sein soll, muß nicht unbedingt gegen die These sprechen, hier nehme ein Komponist zynisch-resignativ seine private Situation aufs Korn. Zum einen ist ein genaues Datum der Flucht des Liebespaares nicht überliefert, zum andern könnte, wie Breicha nahelegt, das Augustin-Zitat auch nachträglich eingearbeitet worden sein. Es wäre jedenfalls naiv, annehmen zu wollen, ein Komponist agiere in einer solchen Situation ausschließlich nach hehren, rein künstlerischen Gesichtspunkten.
Auch war Schönberg von dem Treuebruch nicht jäh überrascht worden. Gerstls Zuneigung zu seiner Frau war bereits im ersten gemeinsamen Gmundner Sommer, also im Jahr 1907, offenkundig geworden. Schönbergs Tochter Trudi hatte dem Vater berichtet, »der junge Mann« küsse die Mutter.
Damals war das Verhältnis der beiden Männer aber noch höchst innig. Gerstl war einer jener Vertrauten, die Schönberg nach den niederschmetternden Konzertskandalen des Frühjahrs 1907 aufzurichten versuchten. Schönberg sei der »größte lebende Künstler«, hatte Gerstl gesagt.
Die Liebe zur Ehefrau dieses »größten lebenden Künstlers« war dann allerdings stärker als die Bewunderung für die musikalische Avantgarde. Die Ehe war zerbrochen. Schönberg reiste mit den Kindern früher als gewohnt nach Wien zurück, ohne zunächst zu wissen, wo sich das Pärchen versteckt hielt. Gerstl und Mathilde hatten in der Liechtensteinstraße, unweit von Schönbergs Wohnung, eine Unterkunft gemietet.
Anton von Weberns spürte die beiden auf. Seiner Vermittlung war es zu verdanken, daß Mathilde zu ihrem Mann und den Kindern zurückkehrte.

Gerstls Selbstmord und das Quartett Nr. 2

Dieser Entschluß hatte fatale Folgen. Am 4. November 1908 erhängte sich Gerstl in seinem Atelier.
Kein Werk symbolisiert den künstlerischen Aufbruch Schönbergs in neue Gefilde besser als das Zweite Streichquartett, das in nachbrahmsischem Gestus in fis-Moll beginnt und in tonal nicht mehr faßbare Regionen entschwebt. Der Weg dorthin führt über den bereits zitierten, ruinösen lieben Augustin über zwei Gedichte Stefan Georges, die einer Sopranstimme anvertraut werden. Auch sie sind mühelos mit der privaten Krise in Zusammenhang zu bringen:

Tief ist die Trauer, die mich umdüstert,

hebt das erste der Gedichte, Litanei, an. Worte wie

Lang war die Reise,
matt sind die Glieder,
leer sind die Schreine,
voll nur die Qual

komponiert ein Mensch, dessen Leben eben erst eine katastrophale Wendung genommen hat, nicht ohne Hintergedanken. Gewiß ist in musikhistorischer Hinsicht auch die ganz unbiographische Deutung des Zweiten Streichquartetts faszinierend, wonach Stefan Georges Worte Ich fühle Luft von anderem Planeten, mit denen der letzte Satz des Quartetts beginnt, für den Aufbruch in eine neue Welt der Tonalität steht. Der schwer lastenden es-Moll-Trauer der Litanei steht die sanft entschwebende, alle Fesseln tonikaler Beziehungen abstreifende freie Harmonik der Entrückung gegenüber.

»atonal«

Das Wort atonal war bereits in Rezensionen über frühere Schönberg-Werke gefallen. Was es technisch zu beschreiben versucht, das Ende der Herrschaft eines Grundtons über einen musikalischen Satzverlauf, die Möglichkeit, funktional beziehungslose Akkorde aufeinander folgen zu lassen, umschreibt man freilich besser mit dem Ausdruck „freie Tonalität“. Denn selbstverständlich kann das Ohr des Hörers seine Gewohnheit, Musik in hierarchischen Zusammenhängen zu begreifen, in jedem Akkord also einen Grundton zu erkennen, nicht ablegen. Es finden sich auch in Schönbergs radikalsten Werken stets Passagen, die ganz klar auf bestimmte Grundtöne verweisen. Andere wieder wechseln so häufig ihre tonale Struktur, daß tatsächlich der Eindruck der vollständigen Beziehungslosigkeit entsteht.
Das Zweite Streichquartett endet jedenfalls nach abenteuerlichen Höhenflügen zu den „anderen Planeten“ in reinem Fis-Dur, bringt also den tonalen Zyklus des Werkes, das in fis-Moll begonnen hat, zu einem geradezu klassizistisch die Form rundenden Ende.

Wild umfehdete Premiere

Das Publikum der am 21. Dezember 1908 wiederum vom Rosé-Quartett musizierten Uraufführung hat denn auch auf dieses Ende, das ein letztes Mal die Herrschaft der Grundtöne zu bestätigen schien, verblüfft reagiert. Nachdem während der gesamten Aufführung Unruhe im Saal geherrscht hatte und auch die prominente Sängerin Marie Gutheil-Schoder, die den Sopranpart übernommen hatte, nicht von Störungen verschont blieb, verstummten die Proteste im Verlauf der rein instrumentalen Coda plötzlich.
Vorangegangen war einer der heftigsten Konzertskandale in der gerade in Verbindung mit Schönberg nicht eben armen Wiener Skandalchronik. Die »Arbeiterzeitung« berichtete wenig später vom neuesten Fall Schönberg, so als ob man sich angesichts dieses Komponisten längst daran gewöhnen hätte müssen, daß Premieren nicht ohne massive Publikumsproteste abgingen.
Wobei der Rezensent darauf verweist, daß sich der überwiegende Teil der Zuhörer neutral verhalten hätte und es nur „dem Übereifer einiger grüner Jungen gelang, erwachsene und ernste Leute zu häßlichen, das Ziel der Abwehr weit überschießenden Gegendemonstrationen zu verleiten.“ Demnach war es nicht die revolutionäre Musik, sondern die vorschnellen Beifallskundgebungen der Schönberg-Jünger, die den Skandal provozierten.

»Öffentliches Ärgernis«

Denn erst nach den offenbar demonstrativen Ovationen im Anschluß an den ersten Satz brach der Sturm der Entrüstung los. „Nicht weiterspielen“ riefen einige Hörer den Musikern zu. Gelächter und Zischen begleitete den Rest der Aufführung.
Anton Webern, der massiv für Schönberg eintrat, wurde von Kritikern sogar handgreiflich attackiert, wie sich Schönberg später erinnerte.
Max Kalbeck rezensierte daraufhin den Abend nicht auf der Kulturseite des „Neuen Wiener Tagblatts“, sondern im Chronikteil und machte den Komponisten und seine Musik verantwortlich:

Es kam zu einem regelrechten Skandal während der Aufführung einer Komposition, deren Urheber auch schon mit anderen Erzeugnissen öffentliches Ärgernis erregt hatte. Aber so arg wie gestern hat er es noch nie getrieben. Man glaubte, eine veritable Katzenmusik zu vernehmen.
Nichtsdestoweniger hielt das Publikum still. Schluß des ersten Satzes. Da werden im Stehparterre Beifallssrufe laut. Dies ist das Signal zum Skandal, der wie eine Lawine anwächst, abflaut, wieder anhebt und schließlich im Fortissimo ausklingt.

Dem Zeugnis Richard Batkas zufolge, sollen Kritiker an dem Protestgeschrei beteiligt gewesen sein. Arnold Rosé ließ sich von den Wellen des Unmuts nicht beeindrucken und setzte für den 8. Jänner 1909 eine zweite Aufführung des fis-Moll-Quartetts an. Diesmal stand auf den Eintrittskarten bereits zu lesen, daß jegliche Kundgebung während der Aufführung verboten sei.