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»Die Presse«, 9. August 2005

Anna Netrebko gibt's gar nicht

Verdis »Traviata« in Salzburg. Notizen nach einer zum Ereignis des Jahres erklärten Festspielpremiere.
Die Hysterie nahm erstaunliche Formen an. Gleich nach dem Ende der Salzburger »Traviata« sprangen einige Damen in der ersten und zweiten Reihe des großen Festspielhauses von ihren Sitzen. Daraufhin mussten die hinter ihnen Sitzenden auch aufstehen, um noch sehen zu können, wer auf der Bühne sich verbeugen käme. So erzeugt man eine Standing Ovation.

Das war eine der Lehren, die Verhaltensforscher aus der von allen Zeitschriften und Fernsehstationen zum Ereignis des Jahres erklärten Festspielpremiere ziehen durften. Eine weitere: Was da wochenlang vermarktet wurde, ein medienwirksames Produkt namens Anna Netrebko, das alles zugleich ist, ein modelgleicher Popstar unter den Opernsängern, eine Sopranistin, die ebenso perfekt aussieht, wie sie singt, und die Kunstform Oper via Videoclips zum schicken Mode-Sport pushen kann, ist ein Design-Geschöpf, das in der Realität selbstverständlich nicht existieren kann. Den Anspruch, der hier aufgetürmt wird, hätte selbst ein Klon aus Maria Callas und Marilyn Monroe nie erfüllen können.

Will man also über die via Fernsehen in alle Haushalte transportierte Aufführung der Verdi-Oper mit Netrebko in der Titelrolle etwas aussagen, muss man ein wenig den glamourösen Designer-Schleier wegzuziehen versuchen, um festzustellen, was denn jenseits des schönen Scheins tatsächlich passiert ist im Großen Festspielhaus.

Sofas wie aus dem Billig-Möbelhaus

Den Weg dazu weisen uns die Kulissen, die Wolfgang Gussmann für Willy Deckers Inszenierung entworfen hat. Denn in dem großen, als Schallverstärker extrem sängerfreundlichen weißen Arena-Rund der gewölbten Rückwand stehen nebst einer riesigen Vergänglichkeits-Uhr lediglich rote oder weiße Sofas. Und die sehen aus wie aus dem Billig-Einrichtungshaus. Genau zwischen diesen Polen Glanz und Wonne der Vorauspropaganda auf der einen, kostengünstige Sitzgelegenheit auf der andern Seite ist die Salzburger »Traviata« angesiedelt.

Gediegenes Mittelmaß tönt jedenfalls aus dem Orchestergraben, in dem Carlo Rizzi ein Orchester befehligt, von dem man kaum glauben möchte, dass es sich dabei um die berühmten Wiener Philharmoniker handelt. Verdi hat ja doch nur Leierkasten-Musik geschrieben, denkt man, wenn die Hm-Tata-Rhythmen anheben und mit viel Tempo über sämtliche dynamische Nuancen der Partitur drübergespielt wird.

Eine Abordnung aus der Wiener Staatsoper spielt da auf, die von Takt zu Takt hören lässt, wie oft sie »Traviata« schon gespielt hat. Erschüttern kann diese Musikanten keine noch so freizügige Auslegung des Dreivierteltakts durch eine Solistin, ja nicht einmal der verschobenste Einsatz der Kollegen vom Chor. Mit ihnen hat man sich auch im ungeprobten Wiener Repertoire-Alltag ja noch immer irgendwo wieder gefunden.

Dass »La Traviata« auch ein von feinsinnigen kompositorischen Charakterisierungskünsten und psychologischen Nuancen beseeltes musikalisches Drama ist, bleibt in einer dieserart repertoiremäßig tönenden Festspielpremiere gänzlich ausgespart. Seine unzähligen dynamischen Anweisungen, behutsam gesetzten Akzente und jähen Kontrastwirkungen hätte sich Verdi sparen können. In Salzburg werden sie nivelliert.

Nur im Gesang eines Rolando Villazon schwingen sie nach. Da ist zu hören, wie viel Verdi noch von den genialen Vorgängern Donizetti und Bellini aus der Belcanto-Ära in sein Reformwerk mitgenommen hat, wie sich in einer schön modellierten Phrase Stimmungen spiegeln, wie darin Lebens- und Leidenslaute fühlbar werden können. Und das, ohne dass der Sänger ausdruckshalber die artifizielle vokale Gestaltung von Bögen und Linien unterbrechen müsste.

Der Tenor Villazons, im Espressivo, meint man zu vernehmen, am Vorbild eines Giuseppe di Stefano geschult, bewegt nicht nur in den dramatischen Passagen der Rolle, bis hin zu den verzweifelten Hass-Ausbrüchen im Final-Bild des zweiten Akts. Er verfügt auch über die Agilität, die nötig ist, die jauchzenden, ja euphorischen Liebes-Musiken in ihrer freudigen Bewegtheit lebendig zu gestalten. Villazons Gesang bleibt dabei recht penibel auf Verdis Noten konzentriert, was von den Darbietungen seiner Partnerin Anna Netrebko nicht behauptet werden darf, denn sie verfährt vor allem mit den Koloraturen und den vielen heiklen Tongruppen, die den melodischen Fluss mit kleinen und kleinsten Notenwerten verlebendigen, ziemlich frei. Da werden halbe Takte verschliffen und höhere Töne keineswegs mit jenem Charme absolviert, den die zumindest fühlbare Möglichkeit vokaler Modulationsfähigkeit garantieren würde.

Permanente Selbstdarstellung

Netrebko ist eine »Traviata« für die beiden letzten Akte, eher jedenfalls als für den glitzernden, aufgeputschten Effekt der ersten Szenen und der großen Arie samt der brillanten Cabaletta. Wo das zweifellos sehr fernsehtaugliche theatralische Spiel mit weniger kunstvoller Vokalartistik zu begleiten und verdeutlichen ist, etwa im Dialog mit dem würdevoll nicht nur erscheinenden, sondern auch tönenden Vater Germont des Thomas Hampson, dort ist sie in ihrem Element. Sie lässt sich freilich nie aus der ein wenig autistischen Reserve permanenten Selbstdarstellungs-Theaters bringen, auch von gefährlicheren, hintergründigeren Tönen, die Hampson bald anschlägt. Die führen im Dialog mit dem missratenen Sohn zu einem dramatischen vokal-schauspielerischen Ringkampf, der in eine der effektvollsten Bühnen-Ohrfeigen mündet, die man je gesehen hat.

Hier gipfelt Willy Deckers sauber choreographierte Inszenierung, die das Raubkätzchen Anna-Violetta in eine Manege setzt, in der sich letztlich die Männer, wenn auch aus völlig verschiedenen Gründen auf sie fixiert, um sie prügeln. Im Übrigen ist die Produktion völlig auf die zirkusreife Beweglichkeit von Netrebko und Villazon zugeschnitten, die im ersten Liebestaumel über die Bühne fegen wie Balletttänzer und in jeder Lebenslage zu singen vermögen, auch hängend, liegend oder fast auf den Kopf gestellt. Das ist, zugegeben, eine neue Operngeneration, mit der man auch Filme drehen kann.

Mit Geldscheinen ausgestopft

Dergleichen verdichtet sich bedrohlich, wenn etwa der enttäuschte Liebhaber seine ehemalige Geliebte im Furor zum Entsetzen der Festgäste mit Geldscheinen bewirft und dann geradezu ausstopft. Auch den Zusammenbruch im Finale spielt Netrebko über ihrer riesenhaften Lebensuhr so lebensecht wie leinwandgerecht aus. Ob da einige Töne nicht ganz so sitzen wie's Brauch der Schul, fällt wohl nicht ins Gewicht.

Man hat sie gesehen und bewundert, die neue Sänger-Generation. Live oder via TV. Sollten tatsächlich auf diese Weise Menschen vor den Fernsehschirmen befunden haben, sie könnten sich Oper auch einmal dort ansehen, wo sie hingehört, dann hätte der Totaleinsatz der realen Netrebko und ihrer Kollegen etwas bewirkt, was man nicht einmal der virtuellen Netrebko in all ihrem Glanz und Glamour je zugetraut hätte.

↑DA CAPO

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