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29. Juli 2002

Largo desolato in den Tod - Das Dramma giocoso hat ausgelacht

Die neue Ära in Salzburg begann mit einem »Don Giovanni«, den Dirigent Nikolaus Harnoncourt in einen permanenten Trauermarsch und Regisseur Martin Kusej in eine unrettbare Tragödie verwandelten. Nur die Schwestern der Göttin der Unterwelt lachen sich ins Fäustchen.

Die Ouvertüre beginnt mit einem Blick auf jenes vielfach preisgekrönte Unterwäsche-Werbeplakat mit den fünf knackigen Damenhinterteilen, das Martin Kusej als Zwischenvorhang verwendet. Sobald der sich hebt, sind wir freilich schon zu Ende mit allen Träumen. Mit Erotik hat »Don Giovanni« nichts zu tun diesmal in Salzburg. Der Titelheld treibt als Anarchist sein bestialisches Wesen, nimmt sich von der holden Weiblichkeit, was er gerade kriegen kann, mordet seelisch, aber zwischendurch auch real - jedoch in einem scheinbar besinnungslosen Delirium, das bald in Agonie umschlägt.

Das Adjektiv in der Genrebezeichnung »Dramma giocoso« hätten sich Da Ponte und Mozart schenken können. Es gibt nichts zu lachen, außer für die Todesbotinnen, die auf dem Friedhof zunächst wie Grabmonumente stehen, dann aber ihre Umhänge abwerfen, reifere Damen von unterschiedlicher Fülligkeit in Slip und BH. Die kichern sich eins über das Angebot des Komturs, zum Abendessen zu erscheinen. Sonst hat hier keiner etwas amüsant zu finden.

Die Damenriege hatte die Umtriebe des Helden schon den ganzen Abend lang umschwärmt. Oder besser wie Schaufensterpuppen regungslos umstanden. Allerdings bestand sie zunächst aus entfernten Verwandten der Unterwäsche-Models, jugendlichen Trägerinnen weißer Dessous, die wie die handlungstragenden Damen mehr und mehr Blessuren davontragen, bis sie irgendwann äußerlich (und wohl auch innerlich) schwer verletzt als menschliche Wracks herumirren.

Ein Spiel mit der Geduld

Harnoncourt dirigiert dazu ein Largo desolato. Und Kusej jagt den autistischen Eigenbrötler Giovanni durch ein Labyrinth aus steril weißen Zimmern und Gängen, die Martin Zehetgruber auf die Bühne des großen Festspielhauses gebaut hat. Endlos wirkende knarrende Umbauten der Drehbühne wuchten immer neue Varianten von kalten, abweisenden Wartezimmer-Alpträumen hervor.

Der neue Festspiel-»Giovanni« ist auch und offenbar ganz bewußt ein Spiel mit den Nerven und der Geduld des Publikums. Harnoncourts langsame Tempi dehnen die Vorstellung auf Bayreuther Ausmaße. Und sie machen auch den Sängern zu schaffen, die nicht immer mit den endlosen Atemzügen, die da verlangt sind, mithalten können.

Freilich: Da ist manch edle Stimme am Werk, die allen Anforderungen genügt. Allen voran der Tenor von Michael Schade, der mit Don Ottavios »Dalla sua pace« den vokal sensationellsten Moment des Festspielabends gestaltet. Aus dem von Harnoncourt mit den Wiener Philharmonikern aus dem Nichts hervorgezauberten Pianissimoteppich entfaltet er in magischer Ruhe einen edel strömenden, selbstvergessen schönen Gesang.

Auch Titelheld Thomas Hampson hat in solchen verhaltenen Augenblicken seine stärksten Momente. Das Ständchen singt er behutsam phrasierend, voll Poesie. Im Duett mit der in allen Phasen perfekten, wohllautenden Zerlina Magdalena Kozenas vollbringt er ein Kunststück an artifiziellem Piano-Lyrismus.

Giovanni versucht da, dem Bauernmädchen mit seinem schwarzen Seidentuch die Augen zu verbinden. Das tut er, scheint's mit allen Schönen. Es gehört zu seinem Verführungsritual. Auch Donna Anna erscheint zu Beginn mit verbundenen Augen. Und im Falle der Donna Elvira im zweiten Akt erklärt es schlagend, warum das Verwechslungsspiel mit Leporello so lange aufrecht erhalten werden kann.

Schöne, zu leichte Anna

Was erklärt es noch? Daß Donna Anna zumindest in Kusejs Deutung jedenfalls willig in den Armen jenes Mannes liegt, den sie hernach einen Abend lang (offenbar heuchlerisch) als Wüstling zu denunzieren versucht. Giovanni selbst hält nichts von Masken, reißt sich seine sogar vom Kopf ehe er dem Komtur den Garaus macht. Daß der - wie es scheint, selbst gerade mit leicht geschürzten Damen beschäftigt - so heftig auf die Umtriebe seiner Tochter reagiert, wirkt nur deshalb unglaubwürdig, weil Kostümbildnerin Heide Kastler das Geschehen in die freizügige Yuppie-Ära verlegt. Da sind auch Edelmann und Bauersknecht kaum voneinander unterscheidbar. Manche (fürs Geschehen nicht unbedeutende) hierarchische Anmerkung des Librettos wird dabei sinnlos.

Wie auch immer: Anna Netrebkos Anna wurde vom Festspielpublikum zum Star des Abends gekürt. Da klaffen dramaturgische Wahrheit und die Erkenntnis, daß die junge Dame über einen schön geführten, glockenhellen Sopran verfügt, ein wenig auseinander. Gewiß, Netrebko singt sämtliche Phrasen in erfreulicher Frische. Doch mangelt es ihr in den Momenten, da Mozart große Emphase verlangt, entschieden an Potential, mehr als die geforderten Töne zu liefern. In der ersten Arie etwa hört man sehr wohl, warum die Aufführungstradition keinen leichten, sondern einen dramatischen Sopran bevorzugt hat.

Melanie Diener leiht im Gegenzug ihre viel schwerere, in der Mittellage wunderbar weich und ausdrucksstark tönende Stimme der Donna Elvira. Diese wiederum muß von des Dirigenten Gnaden die »Mi tradi«-Arie zu einem balladesken Riesenepos zerdehnen. Das sind tatsächlich neue Perspektiven einer Partitur, deren verstörende Wirkung an die flackernden, hie und da ganz ausfallenden Neonröhreneffekte von Kusejs Beleuchtungsregie erinnern.

Man denkt an diesem Abend sehr viel nach, warum hier was geschieht oder warum es nicht geschieht. Es bleibt ein Rätselspiel, zu dem Kurt Moll noch einen etwas hohl klingenden Komtur und Luca Pisaroni einen ordentlichen Masetto beisteuern. Nicola Uliveri gebührt Dank dafür, daß er sich über Nacht bereit erklärt hat, für den erkrankten Leporello der Produktion einzuspringen. Er hielt sich tapfer und wirkte, als hätte er die Inszenierung von Anfang an mit erarbeitet. Kusejs vor allem in den Dialogen nie unlogische Personenführung macht das offenbar möglich.

So hat das Salzburger Publikum nach schwerer Zeit endlich eine Inszenierung eines Moderegisseurs, die viele Bilder liefert, aber keineswegs provokant gegen den Stachel der Handlung löckt. Und es hat Nikolaus Harnoncourt wiedergewonnen, der allenthalben als bedeutender Erneuerer des Mozartstils gefeiert wird. Weshalb er auch nach Salzburg gehört und man sich hier mit seinen Deutungen zu beschäftigen hat. Insofern ist wieder alles im Lot.

↑DA CAPO

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