Der Gegenkarajan?
»Vom Denken des Herzens« -- Monika Mertls plastische Biographie des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt.
Ob als »Gegenkarajan« oder als Apostel der Originalklang-Bewegung -- kaum ein Musiker ist während der vergangenen zwei Jahrzehnte dermaßen dämonisiert und von der Fachpresse zu solcher Größe »hinaufgeschrieben« worden wie Nikolaus Harnoncourt.
Die Karriere dieses Künstlers vom Cellisten der Wiener Symphoniker zum Guru der Alten Musik und dann vollends zum Meinungsbildner in Sachen Barock, Klassik und Romantik scheint tatsächlich singulär. Jetzt gibt es ein Buch, das den Werdegang anschaulich nachvollziehen läßt _ und das gar nicht den Eindruck der Starbeweihräucherung aufkommen läßt.
Nichts leichter, als Harnoncourt auf ein Podest zu heben, seine vielen Errungenschaften aufzuzählen und dann zu dem Schluß zu kommen, er sei zu Recht der meistdiskutierte Dirigent unserer Zeit. Nach diesem Muster sind unzählige biographische Arbeiten gestrickt. Diese nicht. Das ist das Verdienst von Monika Mertl, die Harnoncourt über Jahre hin _ vor allem anläßlich »seines« Festivals, der Grazer Styriarte _ begleitet hat und in vielen kleinen und großen Gesprächen den Ansichten des Künstlers auf den Grund gegangen ist.
Akribisch hat Monika Mertl aus unzähligen Aussagen den Ablauf eines tatsächlich unvergleichlichen Künstlerlebens wie ein Puzzle zusammengesetzt. Der Leser wird zunächst dazu verführt, sich für den Stammbaum des "steirischen Grafen" zu interessieren, was nicht schwer ist, denn immerhin war Erzherzog Johann der Urgroßvater der Mama, und der Papa stammt aus luxemburgisch-lothringischem Uradel.
Das Buch beginnt mit Kindheitserinnerungen an selbsterfundene Spiele, die schon bei vollem Bewußtsein durchlebte Nazizeit, in der der kleine Niki während der Fliegerangriffe auf Graz auf einer Aussichtswarte ausharren mußte, um unter Lebensgefahr Bombentreffer zu lokalisieren und der Feuerwehr zu melden. Dann folgen die ersten intellektuellen Begegnungen mit Prägendem, etwa Egon Friedells »Kulturgeschichte der Neuzeit« oder Heinrich von Kleists Aufsatz »Über das Marionettentheater«.
Bühnenbildner könnte man werden.
Vielleicht Bildhauer. Oder doch Schauspieler?
Daß die Wahl auf die Musik fiel, war wohl Zufall.
Und es stand ein Dirigent am Beginn, den man an der Wurzel der Karriere eines Nikolaus Harnoncourt nie vermuten möchte: Wilhelm Furtwängler. Es war überdies Herbert von Karajan, der entgegen der wienerischen Intrige Harnoncourt als Cellisten für die Symphoniker verpflichtete. Und Paul Hindemith leitete die erste Monteverdi-Aufführung, an der der später weltberühmte Monteverdi-Interpret mitwirkte _ und die ihn "wie ein Blitzschlag" traf.
Die Biographie dieses Künstlers ist scheinbar so widersprüchlich wie alles, was später an Aussagen über seine künstlerischen Leistungen getätigt wurde. Monika Mertl läßt auch die Kritiker zu Wort kommen. Sie vollzieht nicht nur den Werdegang vom Mitbegründer des Wiener Gambenquartetts über den Leiter des Concentus musicus bis zum international gesuchten Opern- und Konzertdirigenten nach.
Mertl reflektiert auch, was hierzulande und anderswo über diesen Werdegang geäußert wurde _ und was Nikolaus Harnoncourt selbst zu all dem zu sagen hat. Das wiederum ist bedeutend differenzierter als alles, was über Harnoncourt je geschrieben werden konnte. Denn der Autor und Gesprächspartner Harnoncourt ist so faszinierend vielschichtig wie der Interpret.
Mit eindimensionalen Ansichten kommt man ihm nicht bei.
Der »Querkopf«, der als "Quereinsteiger" mit dem Concertgebouw Orchester für Schlagzeilen sorgte, der von Karajan in Salzburg verhindert wurde, der dann wie ein Sturmwind durch den Festspielbetrieb sauste, um bald auch die Arbeitsweise Gérard Mortiers als inadäquat für seine Ansprüche zu qualifizieren, dieser faszinierend rätselhafte Mann wird in der neuen Biographie zur plastischen Erscheinung.
Dergleichen gelingt nicht oft auf so unprätentiöse Weise.
Selbst die Rolle von Ehefrau Alice erfährt die passende Würdigung. Guter Geist, künstlerische Weggefährtin und fürsorgliche Partnerin, die mit dem Star einen bewußt »spartanischen Lebensstil« pflegt. Auch das will sorgsam analysiert sein. Ein intimes Buch ohne peinliche Anbiederung ist da gelungen. Das ist so selten wie ideal.
Alice und Nikolaus Harnoncourt
Eine Biographie
350 S., geb., 398 Seiten
(Residenz Verlag)