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14. April 2013

Die Netrebko sagte «Ach!»

Eugen Onegin in exzellenter Besetzung um Dmitri Hvorostovsky und Dmitry Korchak unter Andris Nelsons Festspielniveau.

Oper?
Wie oft sinniert der Musikfreund über die tatsächliche Unrealisierbarkeit unseres Lieblingsgenres.
Wenn alles zusammenkäme, Sing-, Musizier- und Schauspielkunst, wenn sie sich auf höchstem Niveau träfen - stets führt diese Illusion zur Anhäufung von Konjunktiven.

Und doch gelingt in den viel beschworenen, selten wirklich erreichten Sternstunden manchmal ein visionärer Augenblick, der die Möglichkeit des Nichtscheiterns des großen Vorhabens immerhin ahnen lässt.

«Es war, wie wenn Eleonora Duse sagt: oh -!», schreibt Peter Altenberg einmal, und spielt damit in zauberhaft impressionistischer, also unbestimmter Bestimmtheit auf das Wesen dieses Kulminationspunktes aller artifiziellen Bemühungen an.

Diesmal sang die Netrebko in der Staatsoper: «Ach!»
Peter Iljitsch Tschaikowsky komponiert dieses «Ach!» seiner Tatjana, ein hohes As schreibt er ihr dazu vor.
Und in diesem Moment war es für den Besucher der Wiener Staatsoper Gewissheit, die Duse, sie muss einst ihr «Oh!» in As modelliert haben.

Allerunmöglichste Unmöglichkeit. In diesem Ton, wenn die Netrebko ihn in diesem Zusammenhang singt, im Verband einer einzigartig geglückten Vorstellung von Eugen Onegin, schwingt so viel emotionelles Erlebnispotenzial, so viel Verinnerlichung von Illusionen, Glück und Seelenleid einer Frauenfigur mit, alles Wissen, aber auch viel Ahnung, die in diesem Moment zur Gewissheit zu werden scheint - sodass wir alle uns in diesem Ton geboren fühlen.

Er leitet eine kurze Frist hinreißender melodisch strömender Selbsttäuschung ein - eine musiktheatralische Oase, in die sich die gequälten Herzen Tatjanas und Onegins flüchten, eine Oase, in der das «Ich liebe dich» ausgesprochen werden kann, das bis zu diesem Moment doch die allerunmöglichste Unmöglichkeit gewesen ist. Auf diesen magischen Illusionszauber steuert Tschaikowskys Musik den ganzen Abend lang zu, um ihn dann mit brutaler Gewalt in Sekundenschnelle wieder zu zerstören.

Wenn er sich im Gesang der Netrebko und Dmitri Hvorostovskys in der gebotenen Schönheit erfüllt, einer Schönheit, die gleichzeitig zum Träger existenzieller Aussagen wird; wenn die Philharmoniker unter Andris Nelsons' ungemein sensibler, feinzeichnerisch raffinierter Führung den Klangraum für die singenden Lebensgeständnisse schaffen, dann passiert, worauf jedes Opernhaus der Welt 300 Tage im Jahr hinzuarbeiten sich anschickt.

Die lange Reise in die Opernnacht. Wie weit wir auf dieser Reise Tag für Tag kommen? Mit Eugen Onegin stand man bei angehaltenem Atem auf dem Gipfel. Das dürften die mehr als 2000 Besucher am Donnerstag kollektiv empfunden haben. Denn nicht nur die musikalische Leistung des rundum exzellenten Ensembles, des Chors und des hoch konzentriert und mit spürbarer Spielfreude musizierenden Orchesters erreichten die Hundert-Prozent-Marke.

Zum vollständigen Musiktheaterglück gehört die szenische Komponente dazu, auch wenn wir mittlerweile gewöhnt sind, sie in einem notwendig gewordenen Akt der Bewusstseinsspaltung so weit wie möglich auszublenden. Auch Falk Richters stümperhafte Tschaikowsky-Inszenierung, die in ihrer deutschen Holzhammerattitüde bei Dauerschneefall auch während des Erntedankfestes kilometerweit an Puschkins Ästhetik vorbeischrammt, gehört zu den ärgerlichen Erbstücken im Wiener Repertoire.

Doch macht eine Sängerbesetzung, die samt und sonders imstande ist, dank ihres offenbar angeborenen Theaterinstinkts Ausdrucksgesang auch mit adäquatem Spiel zu verbinden, die dümmste Kulisse vergessen.

Es ist nicht wichtig, in welchem Ambiente der junge Dmitry Korchak - ganz Erbe der lyrischen russischen Tenorschule - den Lenski singt. Solang er in der großen Arie mit so einfühlsam modellierten, im Piano subtil schattierten Kantilenen fühlbar macht, wie kongenial Tschaikowsky seine poetische Vorlage in Musik verwandelt hat.
Solang Konstantin Gorny als ungewöhnlich junger Fürst Gremin Luft für so weit ausgreifende Ges-Dur-Phrasen hat.
Solang eine jugendfrische, saftig kraftvoll artikulierende Olga, Alisa Kolosova, zum lebhaft-liebenswerten Gegenbild der träumerischen Tatjana wird.
Solang Norbert Ernst die halb karikative, halb aber doch feinsinnig deklamierte französische Einlagenummer des Monsieur Triquet zum nötigen erholsamen Intermezzo im schwarzen, dekadenten Spiel macht.

Auch theatralisch dreht sich dann alles um das Spiel, das Onegin mit Tatjana treibt, und das sie zuletzt in trauriger, weil gebotener Eiseskälte pariert.
Hvorostovsky erscheint geradezu als die Inkarnation des eitel-egomanischen Titelhelden.
Die Netrebko singt nicht nur mit voll erblühter, satter Edelstimme, sie vermag es auch, ihren Gesang in Gebärde überzuführen und quasi die Musik weiterzusingen, wenn Tschaikowskys Melodien schon zu Ende sind - etwa wenn sie nach der Briefszene der braven Amme (Aura Twarowska) noch nachzulaufen versucht, und gleich resigniert zurückkehrt: Da spiegelt sich in der zuvor gerade himmelhoch jauchzenden Miene die jähe Gewissheit, den Fehler ihres Lebens begangen zu haben: diesen Brief geschrieben zu haben.

Vor dem Abgrund.

In diesem Moment fühlt das Publikum die Enormität des Abgrunds, der sich hinter der gutmütig-friedvollen Fassade aus Wohlgeordnetheit und überreicher Fadesse für das einzelne Individuum auftun kann.

Dagegen einmal mit Ehrlichkeit angekämpft zu haben - und schon beim Abschuss zu wissen, dass Amors Pfeil sein Ziel verfehlen muss: Das ist die Tragik, die Tschaikowsky so unvergleichlich in Musik verwandelt hat.
Anna Netrebko und ihre Kollegenschaft machen sie hör-und sichtbar.
Oper ist möglich!

↑DA CAPO

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