Pelléas et Mélisande
Claude Debussy nach Maeterlinck
Musik, als ob Claude Monet komponiert hätte
»Pelléas et Mélisande«: Mit seiner Oper ließ Claude Debussy den Impressionismus dramatisch werden.
Auf den ersten Blick sind sie ein Opern-Liebespaar wie jedes andere: Pelleas und Melisande verstricken sich in eine leidenschaftliche Beziehung, obwohl Melisande mit dem Halbbruder des Pelleas verheiratet ist. Von solchen Melangen lebt das Musiktheater spätestens seit Monteverdis "Krönung der Poppea". Und doch ist ein Geheimnis um Debussys Pärchen geblieben. Man kennt ihre Namen, man weiß, dass ihre Tragödie zum Musterbeispiel einer Oper im Stil des musikalischen Impressionismus wurde. Doch so wichtig die kulturhistorische Position sein mochte, die sich die beiden erobert hatten, in der Publikumsgunst waren sie chancenlos gegen Mimi und Rodolfo, Violetta und Alfredo.
Und selbst das langwierig-traurige Lied von "Tristan und Isolde" gilt als leichter verkäuflich - obwohl Richard Wagners Musikdrama viel schwieriger zu realisieren scheint als Debussys Drame lyrique, das so etwas wie ein Gegen-,,Tristan" geworden ist.
Das lag im Trend. Die Opposition zu Wagner, zumindest aber der Bezug auf das Schaffen des Bayreuthers war in der Entstehungszeit des "Pelleas" geradezu axiomatisch für einen Komponisten. Richard Strauss meinte, er hätte einen Weg gewählt, der um den unbezwingbaren Berg Wagner herum führte. Debussy hingegen schichtete in der Geografie der Musikgeschichte einen gar nicht kleinen Berg sozusagen vis-a-vis von Bayreuth auf.
Im "Pelleas" scheint die Gegenthese zu Wagners Bühnensprache ausformuliert. Wer die schiere Ausdehnung des Liebesduetts zwischen "Tristan und Isolde" und dessen gewaltige dynamische Steigerungswellen betrachtet und das Duett zwischen Pelleas und Melisande im vierten Akt der Debussy-Oper dagegen hält, versteht diesen ästhetischen Antagonismus, und er erfasst intuitiv, was mit dem Stichwort Impressionismus in der Musik eigentlich gemeint sein könnte.
Während die Emotionen bei Wagner ekstatisch und vulkanös herausgeschleudert werden, kehrt Debussy die Intensität nach innen und bringt die Musik im Moment des Liebesgeständnisses zum vollständigen Verstummen: "Je t'iame - Je t'aime aussi", wird geflüstert - und das Orchester schweigt!
Im Übrigen umflirren, umschwirren, umfloren die Instrumentalklänge - mehrheitlich in Piano- und Pianissimoregionen und in unendlich differenzierten, behutsamen Farbabstufungen eine rätselhafte Melange aus unbeantworteten Fragen, Andeutungen, Verweigerungen und beziehungslos nebeneinander stehenden Ahnungen, Visionen, Vermutungen.
Wer ist Melisande? Wer Melisande ist, das Mädchen, das der Königssohn Golaud, auf der Jagd verirrt, im tiefen Wald an einer Quelle weinend auffindet, erfahren wir nicht. Maeterlinck spielt mit dem Geheimnis, macht seine Titelheldin zu einer modernen Paraphrase auf die wohlvertraute Waldnymphe unserer Märchen und Mythen.
Aus dem verführerischen Naturwesen, Undine, Melusine und wie sie heißen mögen, deren elementarer Anziehungskraft - halb zog sie ihn, halb sank er hin - kein Vernunftargument gewachsen ist, wird das vollkommen artifizielle Konstrukt einer Mädchengestalt, die gleichzeitig unberührbar und von unausgesprochenen Erfahrungen seelisch zerstört scheint: "Greif mich nicht an", sind ihre ersten Worte; und auf die Frage, ob und wer ihr etwas angetan hätte, antwortet sie: "Ja - alle." Woraus jedoch, wie Robert Musil wohl gefolgert hätte, "bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht".
Auf dem von der Musik kongenial aufbereiteten Bett der vagen Andeutungen, Vermutungen ereignet sich freilich die schon erwähnte Dreiecksbeziehung, wie sie jeder "normalen" Oper zum effektsicheren Sujet reichen würde. Mord und Totschlag inklusive. Doch ist nichts wie anderswo üblich im Reich des greisen Königs Arkel von Allemonde, der auf dem Höhepunkt der Schicksalsverknotungen beziehungsreich anmerkt: "Dazu sage ich gar nichts."
Debussy, der seiner Tonsprache eine von Mussorgsky ererbte Technik der gesungenen Sprachartikulation anverwandelte (das Wort Rezitativ führt da ebenso in die Irre wie die Suche nach einer "Melodie"), suchte in Maeterlincks Text offenbar ganz bewusst das Inkonkrete - und eliminierte alle realistischen Verdeutlichungen der späteren Fassungen des Dramentextes.
Die Sprachvignetten amalgamieren sich mit den subtilen Klangbildern zu einem unendlich zarten, poetischen Musiktheaterkontinuum, das ohne Vergleich in der Operngeschichte dasteht. In seiner stilistischen Konsequenz macht Debussy die kompositorisch-koloristischen Techniken, die von den Hörern als Pendants zum malerischen Impressionismus eines Claude Monet empfunden werden können, zum ästhetischen Programm für ein mehrstündiges Gesamtkunstwerk: Während aber die Dichtung noch ein klares Zeitkontinuum aufweist, innerhalb dessen eine im Grunde einfache Geschichte erzählt wird, hält sich Debussy ans Unnennbare, ans Vage der seelischen Befindlichkeit der Figuren.
Musik wie ein Bild. Musikalische Dramaturgie ergibt sich nicht mehr in klassischer Strukturierung aus melodischen Entwicklungen und harmonischen Verdichtungen und Entspannungen. Die großräumige Form klärt sich beim Hören wie beim das ganze Bild erfassenden Blick auf ein impressionistisches Gemälde: Die Konturen verfließen ineinander, ergeben aus der Distanz dennoch klare Formen.
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In diesem Sinne gelingt es dem Komponisten, mittels impressionistischer Techniken ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Das macht seine Oper zu einem Solitär. Wer die wichtigsten Beispiele Revue passieren lässt, die man in der Musik als genuin impressionistisch zu bezeichnen geneigt ist, entdeckt ja eher eine Fülle von Einzelheiten, von Momenten, die isoliert in größeren Zusammenhängen stehen und jedenfalls nicht strukturbildend für das jeweilige Stück in seiner Gesamtheit sind.
Subtile Farbschichtungstechniken, die Stimmungen evozieren, finden sich in prominenten Stücken wie Verdis "Aida" - am Beginn des Nilakts, wo die Flageolettklänge und Staccati jenseits zeitlicher Entwicklung eine irisierende akustische Klangkulisse malen.
Dergleichen ereignet sich im ausgehenden 19. Jahrhundert und am Beginn des 20. bei so unterschiedlichen Meistern wie Antonin Dvorak (besonders eindrucksvoll in der "Rusalka") oder Arnold Schönberg (etwa am Beginn der "Gurrelieder" und im Ausklang der "Verklärten Nacht"). Wir finden es hingegen seltener als man meinen möchte, bei Maurice Ravel, der dennoch notorisch als Debussys Bundesgenosse genannt wird, wenn es gilt, Zeugen für den musikalischen Impressionismus zu benennen. Freilich, die "Morgendämmerung" im Finale seines Balletts "Daphnis et Chloe" gehört unbedingt hierher, in einem Sinne, in dem sich auch Alban Berg in seinen "Altenberg-Liedern" impressionistischer Klangmaltechniken bedient, um den einleitenden Schneesturm zu schildern.
Ähnliche Exempel sind zahlreich. Sie betreffen die Methode und den Augenblick. Claude Debussys Kunst, die Vokabeln zu weiträumigeren Erfindungen zu nutzen, sie "konstruktiv" werden zu lassen, bleibt recht einsam im musikgeschichtlichen Verlauf. Ein feines Apercu aus der österreichischen Perspektive sei immerhin angebracht: Der fantasievolle steirische Meister Joseph Marx ist einer der wenigen, die des Öfteren auf Debussys Spuren wandeln, aber er weiß durchaus eigenständige Ergebnisse zu erzielen - eine Wiederaufführung seiner gigantischen "Herbstsymphonie" wäre auch in diesem Kontext anzuregen. Sie erscheint noch seltener auf den Spielplänen als Melisande, die von Regisseuren, Dirigenten, Sängern und dem Publikum jedesmal aufs Neue im Wald aufgespürt werden will - und ihr Faszinosum bis heute nicht verloren hat, weil jede Begegnung, jede Neuinszenierung angetan ist, die Fragen zu vermehren.