West Side Story

Lenard Bernstein

Über die Premiere des Musicals bei den Bregenzer Festspielen: Das Seebühnen-Spektakel 2003 als intimes Theater.

Ihr patschertes Leben

Was hat man nicht alles unternommen, um der Riesendimensionen des Bregenzer Freilufttheaters Herr zu werden. Erinnern wir uns an Vulkane, Leuchttürme und Klagemauern, an Bergsteiger-Seilschaften in "Carmen" und die zirkusgerechten Nummern Marke Primadonnen üben das Seiltanzen in "Nabucco".

Und jetzt das!

Ein einstürzender Wolkenkratzer aus dem Horrorbuch Erinnerungen aus Manhattan. Tonnen von verbogenem Stahl und geborsten Fensterscheiben, hochaufragend noch, aber in Teilen schon zu Ground Zero geworden, sodass Jugendbanden darauf bereits Skateboardrennen veranstalten könnten.

Sie tun es nicht, denn Regisseuse Francesca Zambello hat beschlossen, die Assoziationen zum 11. September unentweiht zu lassen. Der Wolkenkratzer-Rest, den George Tsypin angeblich lang vor der Real-Katastrophe entworfen haben soll, bleibt Kulisse, drohender Schatten, neben dem sich die Geschichte von Tony und Maria ereignen darf, als wäre sie aus einem der intimeren Broadway-Theatern nach Bregenz importiert worden.

Wer erwartet hätte, dass die imposante Kulisse alle Neonfarben der großen Luxuswelt spucken würde, um die Bewohner der Bronx das Fürchten zu lehren, der wird enttäuscht. Einmal, ganz zu Beginn, und dann, wenn die beiden Opfer des Bandenkriegs tot auf der Szene liegen, wandert das Heer der Büroangestellten, grau in grau, sozusagen über Leichen zur Arbeit.

Zuletzt schluchzen alle

Der Rest ist das patscherte Leben der Unterprivilegierten, die ihren Frust in rassistischen Scharmützel abreagieren. Dazwischen blüht und vergeht die Liebe, kurzes Intermezzo im ganz normalen Alptraum. Die unfehlbare Wirkung, die West Side Story auf die Tränendrüse ausübt, bleibt den Zuschauern auch auf der Seebühne nicht erspart. Zuletzt schluchzt man eines Sinnes über das rührende Finale.

Davor bleibt freilich mancher Moment ungenutzt, der fühlbar machen könnte, wie sich die Jugendlichen mit unstillbarem Bewegungsdrang in die vermeintlich beseligenden Regionen rastloser rhythmischer Energie hineintanzen, die Bernsteins nach wie vor explosiv zündenden Nummern anstacheln.

Die Choreographie Richard Wherlocks nimmt den zurückhaltenden Ton der Inszenierung auf und reduziert die Bewegungsfolgen aufs Kammermusikalische. Da können die Wiener Symphoniker unter Wayne Marshall noch so rasant zum Mambo aufspielen, die Ballett-Truppe bleibt dezent, agiert mehr wie beim vornehm-vorrevolutionären Pariser Gesellschaftstanz als bei den artistisch sublimierten Befreiungsschlägen amerikanischer Jugend-Gangs der späten Fifties.

Freilich gelingt das eine oder andere der Ensembles dank effektvollen Timings perfekt, vor allem die köstlich parodistische Nummer von der "Social Sickness". Anderes wieder wirkt bewusst zurückgenommen, geradezu vorsichtig arrangiert, wie um die Hauptdarsteller nicht mit der überbordenden Gewalt chorischer Aktion zu überfluten. Die zarten Handlungsstränge könnten allzu leicht unter die Räder kommen und sich unentdeckt auf der Riesenbühne verlieren . . . - Das geschieht nicht.

Vielmehr hält die rührende Geschichte von den beiden Kindern, deren jugendliche Liebe nicht von Dauer sein darf, weil sie verfeindeten Clans angehören, die auseinander driftenden Tanzeinlagen zusammen. Das kostet die Protagonisten doch einige Mühe, denn sie sind musikalisch alle, darstellerisch zum Teil nicht die stärksten Persönlichkeiten.

Die Damen halten sich - neben Vladimir Minins phänomenalem Moskauer Kammerchor - am besten. Vor allem Sibylle Wolf als Anita bringt die rechte Mischung aus Temperament und Gefühl auf die Bühne. Marisol Montalvo ist eine liebenswert zerbrechliche Maria, deren Tony, Jesper Tyden, allerdings stimmlich wie als Figur ein wenig zu sehr die Softie-Generation beschwört, als dass man ihm glaubte, wie er allen Mut zusammen nimmt, um einen Kampf zu verhindern.

Wie auch immer: Die Story verfehlt auch in der sanften Bregenzer Variante ihre Wirkung nicht. Man erlebt sie, paradox, aber doch, innerhalb riesenhafter Dimensionen als intimes Theater. Auch das ist wohl eine Kunst. In Bregenz hat es den ganzen Premierentag über geregnet und erst am Nachmittag aufgeklart. Also wollte der Wettergott alle Beteiligten auf die Probe stellen, ob sie die reduzierte Festspielhaus-Variante der Inszenierung nicht doch auch im Freien realisieren könnten. Sie konnten.

↑DA CAPO