LA B O H E M E     
Puccinis Welterfolg basiert auf der beliebten Erzählung von Henri Murger Szenen aus dem Leben der Bohème, von denen die Librettisten Giacosa und Illica einige Episoden geschickt zu einer Opernhandlung verwoben haben - und dabei auch Personen aus verschiedenen Figuren Murgers zu plastischen Charakteren verschmolzen haben. So tritt Mimi in der literarischen Vorlage als Mimi und Francine auf. Giacosa und Illica kommentierten in ihrem Vorwort zum Textbuch:
Wie hätten wir nicht die zarten Gestalten von Mimi und Francine in ein einziges Wesen verschmelzen sollen?
Wem fiele nicht sogleich Francines Muff ein, wenn Mimis zarte Hände doch »weißer sind als jene der Göttin der Muße?«
Die Autoren glauben dieser Identität der Charaktere Rechnung tragen zu müssen. Es scheint ihnen richtig, die beiden fröhlichen, zarten und unglücklichen Geschöpfe der Bohème nur als ein Wesen darzustellen, das man statt Mimi oder Francine auch »Ideal« nennen könnte.


Insgesamt waren die Charakterisierungen der Bohème in Murgers Einleitungssätzen zu seinen Erzählungen für die Substanz der Oper vielleicht wichtiger als die Erzählungen selbst.

Wenn auch Giacosa und Illica versichern:
Wir sind bezüglich der Charaktere, Personen und lokalen Einzelheiten der Dichtung Murgers ebenso treu gefolgt wie der szenischen Entwicklung und der Einteilung in verschiedene Bilder. In den dramatischen und komischen Episoden dagegen arbeiteten wir frei, ... um dem wohl »freiesten« Buch der jüngeren Literatur so gut als möglich gerecht zu werden.

Murgers Definition der »Bohème«

... Regen oder Trockenheit, Eiseskälte oder Hundstage, nichts ficht kann diese wagemutigen Abenteurer an ... Ihr Dasein ist ein täglicher Geniestreich, ein mathematisches Problem, das sie Tag für Tag zu lösen wissen ... in der Not werden sie zu Asketen; doch bekommen ihre Hände das kleinste Glück zu fassen, lassen sie sich von ihrer Fantasie zu den kühnsten Verrücktheiten verführen. Dann lieben sie die schönsten und jüngsten Frauen, trinken den besten, gereiftesten Wein. Ihre Fenster können gar nicht weit genug geöffnet sein, um genügend Geld hinauszuwerfen. . Erst wenn die letzte Münze ausgegeben ist, sitzen sie wieder an jener Tafel, die der Zufall jederzeit für sie deckt. ... Das Wörterbuch der Bohème ist die Hölle der Rhetorik und das Himmelreich der kreativen Wortschöpfungen, ihr Dasein fröhlich und schrecklich zugleich!

Problematische Premiere

Wie manch anderes Werk, das im internationalen Repertoire-Kanon unter den ersten zehn der meistgespielten Opern rangierte, war auch La Bohème kein Uraufführungs-Erfolg. Obwohl die Premiere am 1. Februar 1896 in Turin, wo drei Jahre zuvor Manon Lescaut zur Sensation gewesen war, auch nach modernen Maßstäben glänzend vorbereitet war, musikalisch, szenisch und publizistisch. Ein auffälliges Plakat warb für die Novität - und niemand Geringerer als Arturo Toscanini stand am Dirigentenpult - der allerdings damals noch kein Weltstar war. Den Bariton fand Puccini »schauerlich« und ließ ihn noch rechtzeitig austauschen. Trotz allem reagierte das Publikum, das drei Jahre zuvor Manon Lescaut zu einer Sensation werden ließ, diesmal verhalten. Es pflegte auch während der Vorstellung angeregte Unterhaltungen, spendete zwischendurch hie und da freundlichen, aber nicht überschwenglichen Applaus. Kaum jemand zeigte wirkliches Interesse für das neue Stück. Puccini klagte:
Mein Herz ist gebrochen! ... Ich hatte eine qualvolle Nacht ... in mir ist Trauer, Melancholie.
Ein Rezensent schrieb:
La Bohème macht nicht nur auf die Zuhörer wenig eindruck, sie wird auch kaum Spuren in der Operngeschichte hinterlassen.
Ein anderer ergänzte:
Man fragt sich, was den Komponisten in die jämmerlichen Niederungen dieser Bohème getrieben hat.
Puccini sprach später von gezielten Kapagnen gegen sein Werk. Sollte es die tatsächlich gegeben haben, dann hätten sie wenig gefruchtetet. Die Turiner Produiktion war in der ersten Saison 14 Mal zu sehen. Ein wirklicher Mißerfolg sieht anders aus. Und wenn auch die ersten Einstudierungen in Rom und Neapel, kurz nach der Premiere in Turin, nicht viel stärkere Wirkung machten: Die Einstudierung in Palermo wendete das Blatt: 3000 Menschen im Auditorium rasten vor Begeisterung und wollten nicht weichen, ehe die Mitglieder des Ensembles - teilweise schon in Straßenkleidung - und der verbliebene Teil des Orchesters das Finale da capo gaben! Mit diesem Abend - und den folgenden ersten Auslands-Premieren - stand fest: La Bohème ist eines der meisterwerke der italienischen Oper nach Verdi.



↑DA CAPO