Streichquartett Nr. 6 op. 101
G-Dur 1956
Zu den erstaunlichen Tatsachen im Leben des Dmitri Schostakowitsch gehört es, daß ihn der Tod Josef Stalins nicht nur von quälenden, jahrzehntelangen Todesängsten befreite. Das plötzliche Gefühl der Erleichterung und - wenn auch nur relativen - Freiheit, stürzte ihn in Wahrheit auch in eine tiefe künstlerische Krise. Seltsam janusköpfig nehmen sich die meisten Werke von Mitte der Fünfzigerjahre aus. Anämisch nennen sie manche Kommentatoren. Das Sechste Streichquartett macht keine Ausnahme. Wer die ersten beiden Sätze des knappen, nur wenig über zwanzig Minuten dauernden Werks hört, findet nichts von der Dramatik und dem Ausdruckspathos der typischen Schostakowitsch-Musik der Vierzigerjahre. Geradezu leichtgewichtig klassizistisch kommt der Komponist mit einem Mal daher. So ähnlich hatte sich schon der Beginn des Fünften Streichquartetts ausgenommen - aber da waren die ständig auftretenden »Störfälle« die dem Stück hintergründige Ambivalenz verschafften. Hier scheint der Ton fast durchwegs zurückgenommen, gezähmt - lediglich einige jähe Verdichtungen im Zentrum des ersten Satzes sorgen für kurzfristige Eintrübungen. Ganz so harmlos bleiben die Dinge also nicht, wenn auch das anschließende Scherzo leichtfüßig klingt - wo sonst Trotz und beißender Spott geherrscht hatte.
Erst in der breiter angelegten, von Variation zu Variation im Klang gesteigerten Passacaglia des langsamen Satzes kehrt der gewohnte Ernst eine Zeitlang zurück. Und das abschließende Allegretto läßt in kräftiger gewürzter Harmonik ahnen, daß auch dieses Werk vielleicht einen doppelten Boden haben könnte. Die Thematik, die in den ersten beiden Sätzen geradezu an Kinderlieder erinnert nimmt komplexere Züge an - was hat es uns zu sagen, daß in allen vier Sätzen das aus anderen Werken dieses Meisters bekannte Anagrammotiv D-S-C-H, die tönenden Initialen von Dmitri Schostakowitsch, hier - das einzige Mal in seinem Schaffen - in der Vertikalen, also als dissonierender Akkord erklingen? Die mehr und mehr aufkeimenden Fragen werden nicht beantwortet - nach heftigen dynamischen Steigerungen versinkt das Finale in rätselhaftem Pianissimo.
Schostakowitschs Streichquartette