Symphonie Nr. 13 op. 113
b-Moll (1962)
Die Dreizehnte ist Schostakowitschs »Tauwetter-Symphonie«. In der Ära Chruschtschow wendete sich das Blatt nicht nur außenpolitisch, sondern auch für die Künstler im Lande. Man durfte sich wieder einiges trauen. Und jedenfalls war die Todesgefahr gewichen.Wieder einmal war es Schostakowitsch, der sich weit vorwagte. Sehr weit.
Rehabilitierung
Die Symphonien Nr. 11 und 12 waren ganz offen programmatische Werke gewesen, die mit der Geschichte Rußlands und - im Falle der Lenin gewidmeten Nr. 12 - der Sowjetunion zu tun hatten. Politisch angepaßt, wenn man so will, gelangte Schostakowitsch auf diese Weise zu einer Rehabilitierung, die sowohl die ursprünglich abgelehnte und zurückgezogene Symphonie Nr. 4 aus der Versenkung erscheinen ließ, aber auch die verbotene Oper Lady Macbeth von Mzensk, in einer umgearbeiteten Version als Katerina Ismailova wieder in die Spielpläne zurückbrachte.Die neue Symphonie
Für die neue Symphonie wählte Schostakowitsch ein Stück Zeitgeschichte zur Vorlage und fand als Text für seine erste Vokal-Symphonie seit der Dritten Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, dem Parade-Dichter der »Tauwetter«-Periode.Ausgangspunkt für die Symphonie war die Vertonung des 1961 erschienenen Gedichts Babi Yar. Das war nun alles andere als eine Lobeshymne auf die UdSSR. Mochten in den vorangehenden Symphonien im Subtext vielleicht andere Themen verborgen liegen als die vordergründig staatstragenden Hymnen auf die sozialistische Idee: Hier geht es um offene Kritik.
Jewtuschenkos Gedicht
Jewtuschenkos Gedicht handelt vom Massaker in der ukrainischen Schlucht, die dem Text den Namen gab: Hitlers Truppen hatten, nachdem sie den Westen der Sowjetunion überrannt hatten, in Babi Yar Tausende - vor allem jüdische - Gefangene zusammengetrieben und ermordet.So weit reicht der für die kommunistische Propaganda noch wunderbar auszuschlachtende Teil der historischen Erzählung.
Kritik an Stalins UdSSR
Doch Jewtuschenko beläßt es nicht an der Anklage gegen die Mörder. Er nimmt auch die in die Pflicht, die diesen Massenmord, der zum allergrößten Teil jüdische Bürger betroffen hatte, nicht als Teil der Shoah anerkennen wollten. Das wiederum war die Sowjetunion Josef Stalins, die Babi Yar als Mahnmal für die Leiden des russischen Volkes mißbrauchte - um selbst radikal gegen jüdische Bürger im eigenen Land vorzugehen.Chronik jüdischen Leids
Diese feige Camouflage prangert Jewtuschenko an und stellt das Massaker in den Kontext des biblischen Auszugs der Israeliten aus Ägypten, aber auch des Mords an Anne Frank, der antisemitische Hetze gegen Dreyfus und des Pogroms von Białystok, bei dem 1906 fast 100 Juden durch die Armee des Zaren ums leben kamen - eine von zahlreichen antijüdischen Übergriffen in jener Zeit, die von der sowjetischen Propaganda noch jahrzehntelang totgeschwiegen wurden. Die Publikation des Gedichts, 1961, in der Literaturnaja Gaseta war ein Politikum - in der Folge erschienen in rascher Folge mehr als 70 Übersetzungen in aller Welt. Das Massaker und die (Nicht)-Reaktion der Sowjetführung darauf waren mit einem Schlag im Bewußtsein der Welt verankert.Schostakowitschs Mut
Daß Schostakowitsch diesen Text als Vorlage für eine Vertonung wählte, mißfiel auch den Erben Stalins. Bei allen Erleichterungen, die sie ihrer Bevölkerung verschafften: So weit sollte die »Öffnung« nicht gehen.Man betrachtete Schostakowitschs Vorhaben mißtrauisch, zumal der Komponist den Dichter noch bat, drei weitere Gedichte für die Vertonung freizugeben und ein neues für die Symphonie zu schreiben, die auf diese Weise in fünf Sätzen entstehen sollte.
Jewtuschenkos »Antrittsbesuch«
Geradezu schüchtern hatte der berühmte Komponist den jüngeren Dichter gebeten, Musik zu seinen Texten schreiben zu dürfen und lud ihn ein, um ihm die Vertonung des Babi Yar-Gedichts vorzuspielen. Der Bericht des Dichters über diesen Besuch ist berührend:Seine Nervosität erschütterte mich, als er mit einem Mal begann sich zu entschuldigen, für die Schmerzen in der Hand und seine schwache Stimme. Schließlich legte er die Partitur aufs Klavier und begann. Ich bedaure es bis heute, daß dieser Moment nicht auf Tonband aufgezeichnet wurde. Er sang genial, obgleich seine Stimme mittelmäßig war, sonderbar klirrend, als ob sie jeden Moment reißen könnte, und doch von ungeheurer, fast übernatürlicher Kraft.Jewtuschenko griff zu: Er lieferte den Text für Ängste, der zur Grundlage des vierten Satz der Symphonie wurde, die Schostakowitsch in der unglaublich kurzen Frist von sechs Wochen fertigstellen konnte.
Als Schostakowitsch zu Ende war, lud er mich wortlos an den Eßtisch, wo Getränke vorbereitet waren. Er nahm einen kräftigen Schluck, bevor er fragte: »Und?« ...
Die Symphonie
Die Symphonie beginnt mit dem Babi Yar-Satz, der zunächst als eigenständige Komposition gedacht war. Die Reihenfolge der Sätze lautete schließlich:Obwohl es sich um kantatenhafte Vertonungen der Jewtuschenko-Gedichte handelt - die zum Teil (von Schostakowitsch durchaus kritisch gesehen) sehr wortreich sind - ist die symphonische Struktur des Werkes unverkennbar. Der erste Satz, aus Glockengeläute und dunklen, raunenden Figuren heraus zu großer emotionaler Wucht entwickelt, bildet einen gewichtigen Einstand, dem mit dem Humor-Satz ein typisches Schostakowitsch-Scherzo folgt, das den bissigen, zynischen Unterton der Dichtung grell deutlich werden läßt. Im grundsätzlich positiv getönten, den Überlebenswillen beschwörenden Finale kehren zuletzt die Glockentöne des Symphonie-Beginns wieder. Der Text, Karriere, lebt vom Gegensatz zwischen angepaßtem Duckmäusertum und Genialität, die mit unbeugsamem Willen zur Wahrheit verbunden ist.
Die Uraufführung
Die offiziellen Stellen der Sowjetunion nahmen von der Uraufführung der Symphonie, die nach der Weigerung Jewgeni Mrawinskys unter Kirill Kondraschins Leitung stattfand, keine Notiz. Im Vorfeld hatte man versucht, die Aufführung zu verhindern. Der ursprünglich vorgesehene Baß-Solist meldete sich ab, der Einspringer sagte am Abend vor dem Konzert ab. Doch für diesen Fall hatte man vorgesorgt. Das Publikum verstand die Botschaft und zollte dem Komponisten lauten und lang anhaltenden Beifall. Das Regierungsorgan Prawda vermeldete anderntags lediglich die Tatsache der Uraufführung. Kommentarlos.Zwang zu Retuschen
Schostakowitsch und Jewtuschenko wurden genötigt, einige besonders kritische Passagen im Text abzuschwächen. In dieser Form ging die Symphonie in Druck. Das Original kam erst 1970 heraus.Mit seiner → Vierzehnte Symphonie wendet Schostakowitsch dann die kritischen Töne ins Kammermusikalische.