Symphonie Nr. 4
Die Vierte Symphonie entstand in einer Phase der trügerischen Selbstsicherheit nach der sensationell erfolgreichen Uraufführung der Oper Lady Maacbeth von Mzensk, die nicht nur in der Sowjetunion zunächst auf ungeteilte Begeisterung stieß und zahllose Aufführungen erlebte, sondern auch weltweit sofort Aufsehen machte.
In den USA brachten mehrere Häuser das Werk heraus und Arturo Toscanini dirigierte in New York konzertant Szenen daraus.
Währenddessen arbeitete Schostakowitsch fieberhaft an seiner Vierten Symphonie, die den zeitgemäßen musikalischen Stil mit den Zielen der sowjetischen Kulturpolitik verbinden sollte.
Jenseits plakativer Parteitags-Musiken - als die man zumindest die letzten Minuten seiner Symphonien Nr. 2 und 3 bezeichnen muß - galt es der symphonischen Form wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne damit gegen die kommunistische Parteidoktrin zu verstoßen.
Es sei, so verkündete Schostakowitsch selbstbewußt in einem Artikel in der Prawda das Ziel
mit vollwertigen Werken auf den »gesellschaftlichen Auftrag« unserer bemerkenswerten Epoche zu antworten, ihre Trompeter zu sein – dies ist Ehrensache jedes sowjetischen Komponisten.
Doch die Partei-Granden in Schostakowitschs Heimat wetzten bereits die Messer. Schostakowitsch war offenkundig internationl zu erfolgreich und drohte zu eigenbestimmt zu werden.
Eine der härtesten Attacken, die offizielle gegen einen Komponisten geritten wurden, traf Schostakowitsch nach der Aufführung seiner erfolgreichen Oper in Moskau, der Stalin und seine Vasallen beigewohnt hatten. Auf den Jubel des Publikums - erneut mußte sich Schostakowitsch einige Male verbeugen - folgte ein von Stalin lancierter Artikel in Prawda, der unter dem Titel Chaos statt Musik traurige Berühmtheit erlangte - und der ein kulturhistorisch-zeitgeschichtliches Dokument ist.
In diesem Artikel heißt es unter anderem:
Einige Theater präsentieren derzeit dem inzwischen kulturell reif gewordenen sowjetischen Publikum die Oper »Lady Macbeth von Mzensk« von Schostakowitsch als jüngste Innovation und bedeutende Leistung. Willige Rezensenten loben das Werk über den grünen Klee und machen alle darauf neugierig. Der junge Komponist hört bereitwillig das hohe Lob, achtet aber nicht auf grundlegende, ernsthafte Kritik, die für seine künftigen Arbeit hilfreich sein könnte. ... In dieser Oper wird der Hörer vom ersten Takt an von einem willkürlichen Fluß von Dissonanzen überschwemmt. Melodienfetzen, kleine Partikel musikalischer Phrasen tauchen auf, gehen wieder unter in Lärm, Knirschen und Quietschen. Es ist kaum möglicher, einer solchen »Musik« zu folgen und völlig unmöglich, davon etwas im Kopf zu behalten. ... Es ist Musik, die absichtlich »auf den Kopf gestellt« wurde, damit nichts darin den traditionellen Opern ähneln möge ... So viel Künstlichkeit könnte in eine traurige Sackgasse führen. ... Könnte es sein, daß diese »Lady Macbeth« beim bourgeoisen Publikum im Ausland deshalb erfolgreich ist, weil sie chaotisch und absolut unpolitisch ist?
Einen solchen - von allerhöchster Stelle gesteurten - Angriff konnte in Stalins Reich niemand unbeschadet überleben. Schostakowitsch wurde eine Zeitlang zur Unperson, seine Oper wurde von den Spielplänen abgesetzt. Der Keulenschlag traf ihn mitten im Prozeß der Fertigstellung der Vierten Symphonie. Auf kräftige Überarbeitungen der Partitur folgte die Probenarbeit: Fritz Stiedry ging mit den Leningrader Philharmonikern ans Werk - und es kam zu heftigen Quertreibereien. Am Tag der Generalprobe erschien eine Abordnung des Kulturministeriums und drängte Stiedry, das Konzert abzusagen.
In der Folge bat der Dirigent den Komponisten, von sich aus das Werk zurückzuziehen. Wie die Dinge wirklich genau abliefen, wird sich nicht mehr rekonstruieren lassen. Schostakowitsch, der kurz zuvor sogar Otto Klemperer zugesichert hatte, ihm die Vierte für die deutsche Erstaufführung kopieren zu lassen, hat später unterschiedliche Versionen kolportiert. Sicher ist, daß die Uraufführung abgesagt wurde und in der Folge keine Rede davon sein konnte, daß dieses Werk in der Sowjetunion aufgeführt werden könnte.
Viel später fertigte Schostakowitsch einen Klavierauszug für zwei Spieler an, den er mit Mieczyslaw Weinberg in kleinem Kreis aufführte. Danach aber scheint eine langsame Distanzierung stattgefunden zu haben. Wiewohl man den öffentlichen Äußerungen Schostakowitschs nicht immer trauen darf, weil sie sehr oft im Bewußtsein gemacht wurden, ständig überwacht zu werden, nannte er 1955 die Vierte in einem Atemzug mit den beiden Vorgängerwerken in wenig schmeichelhaftem Zusammenhang:
Die überwältigende Mehrheit meiner Werke - die symphonischen und kammermusikalischen - sind mir teuer, mit Ausnahme vielleicht, der völlig mißlungenen Symphonien Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4.
Die Orchesterpartitur der Vierten war in der Zwischenzeit verschwunden - Fritz Stiedry war übrigens kurz nach dem Vorfall emigriert und wurde zu einem der bedeutendsten Operndirigenten in der Geschichte der New Yorker Metropolitan.
Die Partitur von Schostakowitschs ehrgeizigem symphonischen Projekt konnte später immerhin aus dem Stimmenmaterial rekonstruiert werden, das in der Leningrader Philharmonie verwahrt worden war. Kirill Kondaschin dirigierte die späte Uraufführung, 1961, in Moskau.
Über die wahren Hintergründe des Werks und die wahren Absichten Schostakowitschs wird man nie Klarheit erlangen - viel zu sehr waren des Komponisten eigene Aussagen überlagert von Angst und Camouflage, die von Simon Wolkow herausgegebenen, umstrittenen Memoiren trugen weiter zur Mythenbildung um das über eine Stunde lange, riesenhaft besetzte Werk bei.
Es hatte Jahrzehnte gedauert, bis Schostakowitsch dieses Werk hören konnte - und die Wunde, die diese Niederlage geschlagen hatte, konnte er lebenslang nicht überwinden. Auch der Erfolg der späten Uraufführung nicht.
Nach der Premiere 1961 schrieb einer der Kritiker:
Sie zeichnet sich durch eine sogar bei Schostakowitsch ungewöhnliche Ausdruckskraft, Spannung, durch scharfe Kontraste und unerwartete, nervöse Wechsel aus. Dies ist ein Werk mit einem mächten tragischen Atem, stürmischen Leidenschaften, voller Bewegung und Vitalität. Der junge Schostakowitsch offenbart sich uns als reifer Meister, der die Geheimnisse der symphonischen Dramaturgie sowie die Möglichkeiten und Mittel eines modernen Orchesters und der zeitgenössischen Polyphonie voll beherrscht. Er fürchtet in diesem Werk keine noch so rauhen ,Ausbrüche' und harmonische Spannungen, wenn dies die innere Konzeption erfordert.
Auch hörten die Rezensenten viele Momente, die sich in den späteren großen Symphonien wiederfinden sollte. Und doch: Die seinerzeitige Rücknahme der Vierten war Symbol für Schostakowitschs grandioses Scheitern. Er hatte gedacht, seinen Stil und seine persönliche Linie gefunden zu haben - und mußte erkennen, daß er vermutlich nie wieder Musik veröffentlichen durfte, wie er sie sich erträumte.
Ab der Veröffentlichung des Artikels Chaos statt Musik hatte er sozusagen mit gespaltener Zunge zu sprechen - was immer er sagen wollte, mußte verschlüsselt werden. Nur Kenner sollten »zwischen den Zeilen« vernehmen, worum es ihm tatsächlich ging.
An einen Freund schrieb er nach dem Erfolg der späten Premiere seiner Vierten:
Weiß Du, es kommt mir so vor, als ob die Vierte Symphonie aus verschiedenen Gründen interessanter wäre als alle meine späteren . . .
Zu diesen »späteren« zählte dann natürlich auch die als unmittelbare Reaktion auf die Zurückweisung der Vierten komponierte → Fünfte Symphonie. Sie bietet das erste große Beispiel für jene tönende Selbstverleugnung, zu der sich der Komponist in der Stalin-Ära gezwungen sah.