Symphonie Nr. 2

ursprünglich: »Symphonische Widmung«

Die Zweite Symphonie komponierte Schostakowitsch über Auftrag der Musikabteilung des sowjetischen Kulturministeriums - man übermittelte dem erfolgreichen jungen Komponisten, der mit der Uraufführung seiner Ersten Symphonie in Leningrad Furore gemacht hatte, einen politisch agitierenden Text, der zu vertonen war.

Diesen Text verwendete Schostakowtisch für eine Symphonie mit Schlußchor - die mit Beethovens »Neunter« sonst ganz und gar nichts gemein hatte. Die Zweite wurde ein knappes, musikalisch experimentell-avantgardistisches Werk, an den das Gesangsfinale eigenwillig unpassend angefügt scheint.

Der instrumentale erste Abschnitt der Symphonie, die Schostakowitsch lange als »Symphonische Widmung« bezeichnete und nicht unter seine Symphonien zählte, ist jedenfalls das kühnste, was Schostakowitisch je gewagt hat. Die Musik erinnert zunächst an die »Klangkompositionen«, die Komponisten wie György Ligeti oder Friedrich Cerha in den späten Fünfzigerjahren schufen, abstrakte tönende Bilder - die Klänge schwirren und schweben, scheinen sich spiralenförmig zu bewegen, aus der Tiefe langsam aufsteigend, bis sich aus dem Klangnebel ein Trompetensolo löst, in dem die Musik erstmals melodisch-thematische Form annimmt.

Elemente dieses Trompetenthemas, vor allem die Sekundschritte, ziehen sich dann durch den folgenden Verlauf. Schostakowitsch glieder die einsätzige Struktur durch klar voneinander abgesetzte Abschnitte unterschiedlichen Charakters.

Dem Allegro-Teil kommt nach herkömmlichen Begriffen vielleicht die Stellung eines Scherzos zu, im folgenden ruhigeren Abschnitt nimmt der Komponist die Schichtungstechnik des Symphonie-Beginns wieder auf: Diesmal schachtelt er mehr als ein Dutzend imitatorische Einsätze einzelner Simmen zu einem Cluster übereinander. Gegen Ende dieser Episode klärt sich die Harmonik erstmals, Ges-Dur markiert, wie sich später herausstellen wird, die Dominante der Zieltonart.

Der Einsatz des Chors nach einer von Tonrepetititionen vorangetriebenen Überleitung markiert dann einen scharfen Schnitt: Mit einem Mal wird die Musik holzschnittartig einfach, die Singstimmen deklamieren den revolutionären Text: Auf die Erinnerungen an die harte Vergangenheit folgt mit der Erwähnung des Namens Lenin die Vision von einer hellen Zukunft: Enharmonisch umgedeutet wird das Ges zum Fis - und führt mit dem Ruf »Oktober! Oktober!« zum affirmativen Schluß in H-Dur.

Form und Inhalt

Daß es sich bei diesem Werk nicht um eine Symphonie im klassischen Sinne handeln konnte, war Schostakowitsch klar. An den Leiter der Propagandaabteilung des sowjetischen Musikverlags schrieb er während der Komponistion im Sommer 1927:

Ich denke über die Benennung des Werks nach. Am besten paßt »Symphonische Dichtung«.

Er selbst zählte das Werk erst ein knappes Jahrzehnt später, während der Arbeit an der Vierten unter seine Symphonien. Zuvor sprach er nur von der Ersten als die Symphonie und nannte die Dritte die Mai-Symphonie.

Die Uraufführung der nachmals so gezählten Symphonie Nr. 2 fand am 5. November 1927 in Leningrad statt. Wiederum dirigierte Nikolai Malko. Danach kam die Kantate Oktober von Nikoai Roslavetz zur Uraufführung. Roslavetz war der Leiter jener Abteilung im Ministerium, die Schostakowitsch den Kompositionsauftrag erteilt hatte. Schostakowitsch erhielt für seine Zweite den ersten Preis beim Wettbewerb um die beste Komposition zu Ehren des Revolutions-Jubiläums.

Hintergründe

In einem Brief an einen Freund beschreibt der Schostakowitsch seine Situation während der Arbeit an dem Werk:

Ich denke, ich werde sehr bald fertig sein. Ohne die Verse von Bezymensky und der Musikabteilung, die mich inspirieren sollten, wäre ich noch früher fertig geworden.  . . . Ich nutze diese Gelegenheit, um Ihnen eine Auswahl der Verse zu geben:
Wir kamen, wir foderten Arbeit und Brot.
Unsere Herzen waren von Finsternis erfüllt.
Fabrikschlote ragten in den Himmel
Wie Hände, die sich nicht zur Faust ballen konnten
 . . .
Oktober! - Herold der ersehnten Sonne.
Oktober! - Wille der aufständischen Jahrhunderte.
Oktober! - Arbeit, Glück, Gesang.
Oktober! - Freude an Äckern und Blumen.


Dies ist das Banner im Namen der heutigen Generation:

Oktober
Die Kommune
Lenin!
 . . .
Ich hatte große Schwierigkeiten, diesen Refrain zu komponieren.  . . .
Aber vor dem Refrain gelang es mir, eine gute Strecke zu komponieren, deren inoffizieller Titel »Der Tod eines Kindes« lautet  . . .
Ich fühle mich schlecht. Ich bin nach anstregender Arbeit sehr müde und fürchte, micht bald erholen zu können.  . . .
Sobald ich die symphonische Dichtung beendet haben werde, beginne ich mit der Arbeit an meiner Oper. Die Vorlage bietet mit Gogols Erzählung Die Nase. Das Libretto werde ich selbst schreiben. Die Ouvertüre ist schon fast fertig.

Ich wäre sehr daran interessiert, nach Paris zu gehen, aber ich fürchte, daraus wird nichts.

Die Befürchtungen sollten sich bestätigen. Im Mai 1928 schreibt der Komponist an einen Freund:

Das Leben ist schrecklich. Ich habe den zweiten Akt der »Nase« am 1. Mai vollendet. Heute erhielt ich eine Postkarte, die mich höflich über die Tatsache in Kenntnis setzte, daß mein Antrag auf Erlaubnis zu einer Auslandsreise zurückgewiesen wurde. Das Wort »zurückgewiesen« ist unterstrichen . . .


Auch mit seiner → Dritten Symphonie, wird Schostakowitsch dann noch einmal - ein letztes Mal - ein offizielles »politisches« Werk schreiben.

↑DA CAPO