Symphonie Nr. 1
Die Uraufführung der Ersten Symphonie des 19-jährigen Dmitri Schostakowitsch in der St. Petersburger (damals: Leningradr) Philharmonie markierte im Mai 1926 nicht nur einen bedeutenden Tag im Leben des Komponisten. Sie schrieb Musikgeschichte.
Das empfand auch der Dirigent des Abends, Nikolai Malko, der notierte:
Ich habe das Gefühl, eine neue Seite in der Geschichte der symphonischen Musik aufgeschlagen, einen bedeutenden neuen Komponisten entdeckt zu haben.
Tatsächlich verbreitete sich die Kunde von dem Werk rasch auch außerhalb der Sowjetunion. Bruno Walter, dem Schostakowitsch das Werk anläßlich eines Aufenthalts in Lenindgrad zeigte, erklärte sich sofort bereit, die Symphonie in Berlin zur Aufführung zu bringen. Die Erste wurde schon Ende der Zwanzigerjahre auch in den USA aufgeführt - dann erstmals sogar unter der Leitung des damals führenden Dirigenten, Arturo Toscanini, der sie im April 1931 gleich dreimal auf seine Programme mit New York Philharmonic in der Carnegie Hall setzte und dann im Repertoire behielt. Von einer Aufführung unter Toscanini im Jahr 1944 mit dem NBC Orchestra ist auch eine technisch brauchbare Aufnahme erhalten.
Der Premierenabend war für Schostakowitsch und seine Familie ein außerordentliches Ereignis. Die Mutter schrieb an einen Freund:
Wir hatten den ganzen Winter auf diesen Moment gewartet. Mitya zählte die Tage, die Stunden. Der Tag des Konzerts kam. Mitya hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Um halb neun kamen wir in die Philharmonie. Um neun war der Saal voll. Ich kann nicht beschreiben, was ich fühlte, als ich den Dirigenten Nikolai Malko sah, der sich anschickte, den Auftakt zu geben. Ich kann nur sagen: Es ist manchmal schwierig, ein großes Glück zu überleben ... Alles lief großartig ... ein großartiges Orchester, eine wunderbare Aufführung. Der Löwenanteil des Erfolgs galt aber Mitya. Nach Ende der Symphonie wurde er immer wieder aufs Podium gerufen. Als unser jugendlicher Komponist, der wie ein kleiner Bub aussah, auf dem Podium erschien, steigerte sich der ekstatische Applaus zu Ovationen ...
Schostakowitsch selbst erinnerte sich:
Die Symphonie kam sehr gut an. Die Interpretation war hervorragend. Ein großer Erfolg. Ich mußte mich fünfmal verbeugen. ... Ich bin so froh, bin sprachlos. Ich habe mich über die Aufführung gefreut, das sagt viel aus, denn ich bin ein höchst anspruchsvoller und pingeliger Komponist. Fehler empfinde ich unangenehm wie Nadelstiche. ... Der Erfolg und das schreckliche Lampenfieber am Abend des Konzerts hatten mich ausgelaugt und mir den Kopf verdreht. Verstehen Sie den "verdreheten Kopf" nicht falsch. Er drehte sich aus den richtigen Gründen.
Als weit weniger »richtig« empfand der Komponist die Indoktrinierungen durch die kommunistische Partei, denen er - und alle seine Künstlerkollegen - konsequent ausgesetzt war. Sieben Jahre nach der Machtübernahme zwang man sämtliche Kunstschaffenden in der Sowjetunion, ihr Tun und Lassen den marxistischen Grundsätzen unterzuordnen, Kunst und Leben nach den »reinen Lehren« auszurichten, die in eilig verbreiteten Schriften vertreten wurden.
Wiederholt wurden die Künstler vor Tribunale geladen, vor denen sie sich zu verantworten hatten. Auch Schostakowitsch war diesen Schikanen ausgesetzt und berichtet einem Freund:
Haben Sie Plechanows Buch über Kunst gelesen? . . . Nein
Haben Sie Lunatscharskis Buch über Musik gelesen? . . . Nein
Haben Sie XYZ gelesen? . . Nein. Nein. Nein.
In diesem Fall werden wir Sie nicht examinieren. -- Dann wandte er sich an das Komitee und meinte: »Wenn ich ihm eine Frage nach der soziologischen Grundlage für Bachs Wohltemperierte Stimmung und Skrjabins Harmonik stellen würde, wüßte er die Antwort sicher nicht« -- »sicher nicht« bestätigte das Komitee . . .
Schon im Jahr darauf wurde erwartet, daß der erfolgreiche junge Komponist ein Werk zur Feier des Zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution schreiben würde - seine Zweite Symphonie, die kürzeste von allen, klanglich die experimentellste, dem hymnischen Chor-Manifest zum Trotz.