Falstaff
Edward Elgar
»Symphonische Studie« op. 68 nach Shakespeare
Von allen Hauptwerken Elgars liebte der Komponist seinen Falstaff am meisten, empfand er doch beim Komponieren nie so große Freude wie in diesem Fall. Während der Arbeit gestand er im Juli 1913 einem Journalisten:
Ich glaube, diese Arbeit habe ich mehr genossen als jede andere vorher ... die Stunden, die ich damit verbracht habe, haben mich glücklich gemacht.
MIt dem Werk erfüllte sich ein langgehegter Traum. Die ersten Skizzen zu einer Falstaff-Musik stammen aus dem Jahr 1901. Doch die eigentliche Komposition entstand im Frühjahr und Sommer 1913 in London.
Als Gattungsbezeichnung wählte Elgar den Untertitel »symphonische Studie«. Symphonisch ist tatsächlich der Aufbau, der einem klaren Tonartenplan folgt und die motivische Arbeit nach dem variativen Liszt- und Richard-Strauss-Prinzip. Eine Studie ist das Werk im Sinne einer Charakterstudie von Shakespeares Bühnenhelden aus Henry IV und Henry V.Die Falstaff-Szenen aus den Lustigen Weibern von Windsor, die für Arrigo Boitos Libretto zu Verdis letzter Oper als Hauptquelle dienten, läßt Elgar außer acht.
In seiner Tondichtung trifft der Hörer auf den liebenswerten Falstaff und den jungen Prinzen, der sich vom leichtlebigen Playboy zum ernsthaften Thronanwärter wandelt.
Die Episoden
Elgar spricht von vier Teilen seines in einem pausenlosen Bogen durchkomponierten Werks - und suggeriert damit eine symphonische Grundstruktur:
I. Falstaff and Prince Henry (Allegro)
II - Gadshill – The Boar’s Head – revelry and sleep (Allegro molto)
IIb. Dream Interlude (poco Allegretto)
IIIa. Falstaff’s March
IIIb. The return through Gloucestershire - The New King –The hurried ride to London (Allegro)
IIIc. Interlude. Gloucestershire, Shallow’s Orchard (Allegretto)
IVa. King Henry V’s Progress
IVb. The Repudiation of Falstaff, and His Death(Allegro molto)
Die Aufnahme der Uraufführung durch das Publikum und die Kritik war nicht gerade ermutigend. Ernest Newman schrieb:
Der Stil dieser Partitur zeigt uns an vielen Stellen einen vollkommen neuen Elgar, an den sich das Publikum, das an den alten Elgar kennt, nicht so leicht gewöhnen wird
Damit sollte Newman recht behalten. Doch gilt Kennern Falstaff als eine der bedeutendsten Kompositionen Elgars. Die menschliche Botschaft der Musik deutete Newman an anderer Stelle so:
Das Thema dieser symphonischen Studie ist in Wirklichkeit die verrückte, armselige Mischung von Widersprüchen in uns allen und das Gefühl, daß etwas Riesiges und Rätselhaftes über unseren Häupter schwebt, das ein Ende - ein ungnädiges, aber vielleicht stärkendes Ende - mit all unseren moralischen Schwankungen machen wird, wenn die Zeit gekommen sein wird.
Die analytische Literatur hat darauf hingewiesen, daß für Elgar die Freundschaft Falstaffs mit Prinz Henry (genannt »Hal«) von Anfang an nicht mehr als intakt behandelt. Sie existiert nur noch im Kopf des Titelhelden, den der Komponist freilich als vielschichtigen Sympathieträger behandelt. Elgar selbst zitierte in diesem Zusammenhang einen Shakespreare-Kommentator des XVIII. Jahrhunderts, der über Sir John Falstaff meinte:
Er ist ein Charakter den Shakespeare voller Unstimmigkeiten entworfen hat. Ein Mann, jung und alt zugleich; unternehmungslustig und dickleibig; Tollpatsch und Schlaumeier, gutmütig und böswillig, arm an Prinzipien, aber von kräftiger Statur; oberflächlich betrachtet feig, in Wahrheit aber tapfer; ein aufrichtiges Schlitzohr, ein Lügner ohne Hinterhältigkeit; Ritter, Gentleman, Soldat, aber ohne Noblesse, Anstand oder Ehrbarkeit.
Ein Kind der Fantasie im Widerstreit mit dem realistischen Machtmenschen, der zum König Heinrich wird und seinen ehemaligen Spießgesellen schließlich zurückweist. Falstaff stribt vielleicht auch an gebrochenem Herzen, nachdem seine Motive sich quasi in Luft aufgelöst haben - ein virtuoser kompositorischer Akt.
Aufnahmen
Edward Elgar selbst ging als Dirigent des London Symphony Orchestra im Winter 1931/32 ins Abbey Road Studio der EMI, im seinen Falstaff für Schellackplatten aufzuzeichnen, eine historisch bedingt zwar nicht gerade attraktiv klingende, aber doch immerhin authentische Aufnahmen - in zügigen Tempi und fein abgestimmten Details läßt sie hören, was Elgar wollte.
Von den jüngeren Aufnahmen zählen die beiden unter Daniel Barenboims Leitung zu den liebevollst gemachten: Mit London Philharmonic fing der Pianisten-Dirigent 1973 vor allem die Detailarbeit der vielgliedrigen Partitur akribisch ein (CBS). Mit der Staatskapelle Berlin gelang ihm 2020 ein Remake voll Saft und Kraft - leuchkräftig musiziert und auch von jenem weiten Atem, der seiner Ersteinspielung noch fehlen mag. (Decca)
Elgar-Kenner favorisieren nach wie vor die 1964 entstandene Aufnahme durch das Hallé Orchester unter John Barbirolli, tatsächlich in ihrer Kombination aus fein servierten Pointen und großer dramatischer Übersicht unerreicht.
↑DA CAPO