Wozzeck von Kentridge
Salzburger Festspiele 2015
Die Presse, 2015
Das Spiel vom Sterben des armen Mannes
Salzburger Festspiele. William Kentridge erzählt Alban Bergs "Wozzeck" mit dem grandiosen Matthias Goerne in einem suggestiven Bühnenraum nicht als sozialpolitische Botschaft, sondern als berührendes Protokoll menschlichen Scheiterns.
Das Bild zählt zu den starken Erfahrungen, die ein Theaterbesucher in seinem Leben machen kann. Sabine Theunissen hat es - wohl nach Entwürfen von William Kentridge - gebaut. Und es wirkt, als wären Zeit und Raum über Büchners "armen Leut'" eingestürzt. Die Handlung blüht aus den Trümmern der Erinnerung an Schlafbaracken und schäbige Wirtshausbuden, finstere Stuben, in die nie ein Sonnenstrahl dringt, aber hie und da eine "Latern' hereinscheint".
Im Dickicht aus wild durcheinandergeworfenen Brettern und halb verfallenen Verschlägen, morschen Sesseln, Tischplatten und Leitern öffnen sich manchmal Kastentüren, um den Blick auf klaustrophobiefördernde, mit Geräten vollgestopfte Studierkammern freizugeben. Oder die Beleuchtung (von fantastischer Imaginationskraft: Urs Schönebaum) taucht das Szenario in ein Halbdunkel, dass die projizierten Kentridge-Skizzen mit dem Bühnenirrgarten zu Albtraumbildern verschmelzen: ein sinistrer Waldweg am Teich oder verstepptes Brachland - zugleich ein Blick in die sinistren, verödeten Seelenlandschaften der handelnden Figuren.
Der Künstler Kentridge hat als Regisseur den Büchner'schen "Woyzeck" schon einmal als eine Art Mutantenmarionettentheater inszeniert; daran erinnern Filmsequenzen. Nun bringt er Bergs "Wozzeck" in den Rhythmus der Gliederpuppenbewegungen, denen ja, wie wir seit Heinrich von Kleists Gedanken über das Marionettentheater wissen, durchaus höherer Wahrheitsgehalt innewohnen kann als den Versuchen menschlich gerundeter Darstellungsweisen.
Jenseits der Wiener Berg-Tradition
In diesem Sinn interpretiert Dirigent Vladimir Jurowski auch Alban Bergs Partitur: Eine virtuose, zuweilen in aberwitzigem Tempo wechselnde Abfolge von minutiös voneinander getrennten klanglichen Ereignissen, scharf geschliffen, präzis abgezirkelt, ein auch instrumentationstechnisch stupendes Kompendium orchestraler Farben und Effekte vom wohlklingenden Einzelton bis zum grell dissonierenden Akzent, ja zum Geräusch. Auch das säuberlich in Einzelbilder getrennt, zu denen hie und da ein paar Striche hinzukommen, hie und da Flächen wegradiert werden und die des Öfteren jäh kontrastierende Stimmungen aufeinanderprallen lassen.
Das ist ein Musikverständnis, das sich auf wundersame Weise mit der Ästhetik von Kentridges Kunsttheater trifft - eine Interpretation des "Wozzeck", die viel mit der glasklaren Stildeutung der Schönberg-Schule zu tun hat, wie sie ein Pierre Boulez lebenslang gepflegt hat - und die sich diametral von der wienerisch-philharmonischen Spieltradition unterscheidet, wie sie nicht zuletzt in Salzburg einst gepflegt wurde.
Doch ist diese von der musikalischen Atmosphäre der Heimatstadt des Komponisten geprägte Alban-Berg-Überlieferung seit Langem unterbrochen. Im Orchester sitzt kein einziger Musiker mehr, der "Wozzeck" unter Karl Böhms Leitung gespielt hat.
Von den humanen Zwischentönen, vom Gustav-Mahler-Erbe, wenn man so will, ist an diesem Salzburger Festspielabend nicht der kleinste Hauch mehr zu hören. Jurowski, er wird als möglicher künftiger Bayerischer Generalmusikdirektor gehandelt, dirigiert Berg "senza complimenti", lässt hören, wie viel die nachfolgenden Generationen der musikalischen Avantgarde bis hin zu den Klangcollagen der Postmodernen diesem Komponisten abgelauscht haben. Das ist natürlich legitim bis hin zum Verzicht auf jegliche Rubato-Reminiszenz, die man sich sogar im großen d-Moll-Zwischenspiel vor der Schlussszene versagt, so konsequent, dass im tiefen Blech vor lauter Angst, man könnte in einen Anflug von natürlichem Ritenuto verfallen, ein Viertel zu früh kadenziert wird - einer der ganz wenigen (und im genannten historischen Kontext geradezu sympathischen) Schnitzer im fabelhaften Spiel der Philharmoniker.
Im kühnen optisch-akustischen Koordinatensystem dieser Produktion bewegen sich die Darsteller mit beeindruckendem Engagement. Matthias Goerne reiht sich auch vokal in die Linie der bedeutendsten Wozzeck-Interpreten, nimmt es mit der Erinnerung an Franz Grundheber und sogar an Walter Berry auf, ein Antiheld, in dem - man erkennt es an manch unterdrückter Geste - ein Revoluzzer steckt, den die Realität längst gelehrt hat, jegliches Aufbegehren zu unterdrücken. Wer das Tor ins Menschenleben durchschritten hat, hat jede Hoffnung fahren lassen. Für die visionären Ahnungen dieser geschundenen Kreatur, die Goerne verhalten-schön hörbar werden lässt, hat keiner der Quälgeister, die ihn umgeben, ein Ohr - das Publikum berühren sie umso inniger.
Fragilität statt Sinnlichkeit
Auch die Marie redet ja fasziniert-ratlos von Wozzecks "Vergeistigung", um sich in haltloser Fleischeslust doch dem stämmigen Tambourmajor hinzugeben, dessen Geistlosigkeit in den tenoralen Stentortönen von John Daszak durchaus hörbar wird. Für die sinnlichen, allzumenschlichen Emotionen von Wozzecks Kindsmutter, für die warmen Töne des Wiegenlieds, die ekstatischen Ausbrüche der "Heiland"-Rufe fehlt es dem Sopran von Asmik Grigorian doch an Fülle und Farbe. Im Dialog mit den solistischen Streichern am Beginn der Fuge in der Bibelszene aber bringt sie den rechten fragilen Ton mit.
Alban Bergs extreme Anforderungen weisen freilich die meisten Sänger in die Schranken: Der Andres von Mauro Peter singt seine Lieder immerhin mit lyrischem Schmelz und erreicht auch das hohe C zielsicher, wie es sich bei der "lustigen Jägerei" gehört. Dem Doktor von Jens Larsen liegen die in höchsten Tönen besungenen Forschungsergebnisse näher als die profunden Bösartigkeiten, mittels derer er seine Theorien zu erhärten versucht; der Hauptmann Gerhard Siegels hat seine liebe Not mit den karikierenden Farben, die er seinem Charaktertenor abringen soll; dafür stellt er nach Kentridges Vorgaben einen köstlich karikierenden Offizierspopanz vor, einen Kaiser Wilhelm von den "ganz armen Leuten".
Dass sie im Übrigen frei von sozialkritischem Theaterkitsch ist, zeichnet die Inszenierung zusätzlich aus: Sie führt uns Wozzecks Schicksal vor Augen; und der Staatsopernchor, die exzellenten Instrumentalsolisten der philharmonischen Sommerakademie auf sowie die singenden Kinder hinter der Szene, sie alle spielen das Spiel vom Sterben des armen Mannes engagiert mit.