Peter Steins Lulu
Ein Festwochengastspiel anno 2009
Die Presse, 9. Mai 2009
Eine aufregende Opernproduktion der Wiener Festwochen - und das angesichts des notorisch dürren, völlig uninspirierten Musikprogramms?
Tatsächlich, Peter Steins Inszenierung von Alban Bergs Lulu in der dreiaktigen Fassung von Friedrich Cerha ist ein Wurf. Allerdings hatte sie in Lyon Premiere.
Doch immerhin gastiert sie 2010 in Wien, wenn auch in teilweise veränderter Besetzung. Peter Steins Arbeit aber bleibt erhalten. Und sie ist eine Meisterleistung, modelliert aus den Darstellern Wedekinds Figuren, in Bergs Dramaturgie. Die ist rigider, subtiler entwickelt und voll von Querverbindungen, an die der Analytiker Berg, nicht aber der Dichter je gedacht hat.
Der Theatertüftler Stein lauscht des Komponisten Präzisierungsarbeit, leistet sich keinen Fauxpas gegenüber den dramaturgischen Vorgaben der Klänge, die so suggestiv und eindeutig nicht nur Charaktere zeichnen, sondern auch choreografische Details. Dass Doktor Schön im zweiten Bild nicht irgendwann, sondern präzis beim Eintritt jenes Streicher-Adagios durch die Tür kommt, die Berg dieser Figur im symphonischen Ablauf seines Werks zugedacht hat, mag als ein Detail unter Hunderten herausgegriffen sein.
Regie im Einklang mit der Musik
Der Stein'sche Theaterrealismus ist das ideale Äquivalent von Bergs musikalischem Streben nach Wahrhaftigkeit. Er trifft in die Magengrube. Faszinierend, dass der Regisseur eben dort, wo die Partitur sogar die filmische Umsetzung klingender Figuren - und die akkurate Spiegelung akustischer Vorgänge bei der Gefangennahme und Befreiung Lulus - vorsieht, auf die Bebilderung verzichtet. Statt cineastischer Illustration projiziert man in Lyon lediglich Bergs akribische Textvorgaben - und überlässt die Dechiffrierung der tönenden Bilder dem Hörer.
Womit dieser einmal an diesem Abend auf seine eigene Imaginationskraft angewiesen ist, was angehörs der von Chefdirigent Kauzushi Ono mit großer Sorgfalt zelebrierten, klaren und bemerkenswert idiomatischen Wiedergabe der Partitur durch das Lyonnaiser Orchester nicht schwerfällt.
Auch die Sänger führt der Dirigent mit Gefühl. Die Besetzung ist offenkundig nicht nur nach optischen Gesichtspunkten ausgewählt worden, obwohl jeder Einzelne der Darsteller sogar in einer Verfilmung der "Lulu"-Dramen gute Figur machen würde. Auch der vokale dieser Produktion ist stupend. Voran die Titelheldin der Laura Aikin brilliert als Femme fatale wider Willen. Akustische wie optische Koketterien serviert sie mit Unschuldsmiene und hat weder mit den Koloraturen noch mit der tiefen Lage entscheidender Passagen Mühe. Ihr Sopran scheint für die Partie ideal entwickelt.
Hedwig Fassbender als Geschwitz, Stephen West als Dr. Schön, Paul Gay als Dompteur/Athlet und Robert Wörle in etlichen kurzen, doch dramaturgisch entscheidenden Kleinstrollen agieren und singen untadelig. Franz Mazuras Schigolch wandert als geradezu mythische Figur durch die Zeiten - beeindruckend, nicht nur, weil der Sänger jüngst auf der Bühne seinen Fünfundachtziger feierte. Die beiden Tenöre jedoch, Roman Sadnik als Maler und vor allem Thomas Piffka als Alwa, beweisen auf in diesem Zusammenhang ungewohnt virtuose und sichere Weise, wie konsequent Bergs Musik aus der musikalischen Romantik herauswächst: Da werden Kantilenen, weite melodische Bögen gesungen, nicht einzelne Töne.
Keine Angst vor der "Zwölftonmusik"
Dass es sich hier um ein Werk der sogenannten Zwölftonära handelt, jagt heute offenbar keinem Interpreten mehr Angst ein. Nun muss sich auch das Publikum nicht mehr fürchten: Wir gehen einer Zeit des souveränen Umgangs mit der musikalischen Avantgarde von anno dazumal entgegen.
Das ist die eine Lehre aus dieser Premiere. Die andere: Wenn die szenische Realisierung so "stimmt" wie hier - in der Szenerie Ferdinand Wögerbauers, die vom Maleratelier über den großbürgerlichen Salon bis zur Dachkammer einfach ausschaut wie ein Bühnenbild für die Oper "Lulu" (danke vielmals!) -, dann wirkt die dreiaktige Version keineswegs zu lang, sondern goldrichtig! Einzig insistenter Kritikpunkt: Die Ensembles des Paris-Bildes arten in undurchdringliche akustische Schreigemetzel aus. Das mag die Symmetrie zur entsprechenden Nummer des Variete-Bildes im ersten Akt bilden, doch hätte Berg hier vielleicht doch noch entschärfend eingegriffen. Wie auch immer: Die Festwochen bieten einen exzellenten Musiktheaterabend. 2010.